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Politik: „Wir haben noch nicht gelernt, damit zu leben“

Ungarns Premierminister Ferenc Gyurcsany über den Volksaufstand, Freiheit, Frieden – und dreiste Lügen

Morgen ist der 23. Oktober 1956 fünfzig Jahre her, an dem die ungarische Revolution begann. Was, Herr Ministerpräsident, bedeutet für Sie das heutige Ungarn?

Der 23. Oktober ist der Feiertag der Freiheit. Er erinnert an die Revolution, die wie so viele ungarische Aufstände für Freiheit und Unabhängigkeit scheiterte und erst durch die Wende des Jahres 1989 vollendet wurde. Er enthält für uns auch eine aktuelle Herausforderung, weil Freiheit immer auch Verantwortung bedeutet. Aber damit berühren wir bereits die Debatten von heute …

Ihr Land hat für die Revolution teuer gezahlt. Viele Freiheitskämpfer wurden verfolgt, eine große Zahl von Ungarn musste emigrieren. Dann sah es fast drei Jahrzehnte so aus, als hätte das Land seinen Frieden mit der Niederlage gemacht. Unter Janos Kadar, dem Dauerregierungschef von 1957 bis 1989, trug es das Etikett der „fröhlichsten Baracke im sozialistischen Lager“ nicht ganz ohne eine gewisse ironische Koketterie.

Die Welt unter Kadar war auf einem großen Kompromiss aufgebaut, genauer formuliert: auf einer Lüge. Zwischen der Macht und den normalen Menschen gab es eine Übereinkunft: Du forderst deine Freiheit nicht ein, und ich gebe dir dafür als Entgelt eine gewisse Sicherheit. Dann kannst du stolz darauf sein, dass es hier innerhalb des Lagers eigentlich am besten läuft.

Während wir hier in Ihrem Amtssitz im Parlament miteinander sprechen, versammeln sich draußen, auf dem Platz vor dem Parlament, die Demonstranten, die Ihren Sturz fordern, wie an jedem Tag seit vier Wochen. Der Anlass ist eine Rede, in der Sie – in einem rüden Vokabular – eingeräumt haben, die Wähler vor der Wahl über die wahre Lage belogen zu haben. Es ist derselbe Platz, der vor fünfzig Jahren ein Hauptschauplatz der Revolution war. Eint sie die Ungarn oder spaltet sie sie?

Vielleicht kann man sagen, dass die Nation den Weg zur Revolution sucht. Denn sie lebt in den Herzen von wenigen Leuten. Sie ist nicht zur persönlichen Feier von Millionen geworden. Auch deshalb fällt es der Politik leicht, damit herumzuspielen. Und es gibt einige, die versuchen, an den Kreuzungen die Schilder umzudrehen. Aber was wissen wir über die Nation? Wir wissen nur, dass einige Tausend Leute auf dem Platz sind.

Bisher galt Ungarn als ziemlich problemloser Teilnehmer am Geleitzug Europa, manchmal sogar an dessen Spitze. Jetzt fragen sich die übrigen Europäer: Was geschieht gegenwärtig in Ungarn?

Es ist ein Kampf an mehreren Fronten. Einerseits müssen wir begreifen, dass der Wohlstand in unserer Gesellschaft nicht vom Staat geschaffen wird, sondern die Anstrengung von Millionen braucht. Andererseits sehe ich meine Aufgabe darin, der politischen Elite und auch der Linken klarzumachen, wie ernst unsere Lage ist. Und dann gibt es noch den Kampf der Opposition um die Macht. Diese drei Ebenen vermischen sich in diesen Wochen miteinander.

Mit der Folge, dass Ungarn diesen Gedenktag in einem Zustand der politischen Krise begeht. Sie beziehungsweise die Sozialisten haben die Parlamentswahlen im April gewonnen. Die Opposition, die bürgerliche Jungen Demokraten/Bürgerbund, hat Anfang Oktober die Kommunalwahlen gewonnen. Der Oppositionsführer will das Volk gegen Sie mobilisieren, boykottiert Sie und verlässt, wenn ich das richtig weiß, das Parlament, wenn Sie anfangen zu sprechen.

Seien Sie bitte nicht böse, wenn ich jetzt keine Meinung über das Verhalten der Oppositionsführer äußern werde.

Es ist das Klima der Konfrontation, das bestürzt. Das gibt es gegenwärtig sonst nirgendwo in Europa. Selbst nicht in Polen mit seinen verhärteten Fronten …

Es gibt ein einziges Thema, das entscheidend ist: Ob wir es akzeptieren können, dass das Gemeinwohl sowohl von Liberalen oder von Konservativen oder auch von Sozialdemokraten befördert werden kann. Nach meinem Eindruck haben die Sozialisten damit kein Problem. Nur dem Vorsitzenden der größten Oppositionspartei, die übrigens schon vier der letzten fünf Wahlen verloren hat, fällt es schwer, das anzuerkennen.

Die Rede, die der Anlass für das Aufbrechen dieser Polarisierung war, kann man einen Offenbarungseid nennen. Denn sie betrifft eigentlich nicht nur die Jahre Ihrer Regierung, sondern die 16 Jahre seit der politischen Wende. Bereits in Ihrem Programm für die neue Regierung vom April haben Sie eine dramatische Bilanz gezogen: In Ungarn habe sich seit der Wende die Schere der Ungleichheit weiter geöffnet. Sorglosigkeit stehe neben Entbehrung und Resignation. Die ungarische Gesellschaft scheine – Ihre Worte – „sich immer mehr zu versteifen“. Das sind sehr kritische, fast vernichtende Urteile über eine Zeit, die doch einen Neuanfang für Ungarn bedeutet hat.

Etwas Neues hat tatsächlich angefangen, was die Demokratie und die Marktwirtschaft betrifft. Aber zugleich wurde die künstliche Welt der Gleichheit im Sozialismus durch einen Wettbewerb abgelöst, wie ihn die Menschen noch nie erlebt hatten. Es gab wenige Gewinner und viele, die sich als Verlierer fühlen. Und wir haben noch nicht gelernt, damit zu leben.

Man wirft Ihnen vor, dass Sie die Ungarn belogen haben. Aber man hat eher den Eindruck, Sie hielten der ungarischen Gesellschaft vor, sie belüge sich selbst.

Wir sollten selbstkritisch sein. Wir haben Illusionen gefüttert, für uns selbst und auch für die Wähler. Wir waren nicht tapfer, nicht mutig genug, ihnen klar zu sagen, dass die Person vor allem für sich selbst verantwortlich ist. Wir wollten die Marktwirtschaft so aufbauen, dass die Leute das Gefühl haben konnten, dass doch ein kleines Stück vom staatlichen Sozialismus erhalten bleibt. Und wir hatten damit kein Problem – weil wir nicht mutig genug waren.

Die Leute haben es nicht begriffen? Nicht begreifen wollen? Nicht begreifen können?

Die Jahrzehnte zwischen 1956 und 1990 waren in mancher Hinsicht sehr bequem. Ein bisschen relative Freiheit, ein bisschen relativer Wohlstand – aber sonst Stagnation und eine falsche Illusion von Sicherheit.

Das war die Vergangenheit. Aber was haben Sie selbst, was hat die politische Klasse versäumt in den 16 Jahren seit 1990, in denen Sie frei waren, politisch zu handeln?

Was eigentlich unsere Sache war, ein besseres Gesundheitssystem aufzubauen, das Schulwesen zu modernisieren, das Sozialwesen tragfähig zu machen, da haben wir viel zu wenig getan. Um ein Beispiel zu nennen: Wir wohnen im besten Bezirk der Stadt, und die Schule, in die mein Sohn geht, eine staatliche Schule, wo er übrigens auch Deutsch lernt, bietet ihm nach meiner Einschätzung die gleichen Umstände wie in, sagen wir, Düsseldorf. Nur 200 Kilometer östlich von Budapest gibt es aber Schulen, wo es kein Wasser gibt und die Zigeunerkinder unter sich bleiben. Mein Sohn und diese Kinder sind Mitglieder derselben Nation, beide gehen in staatliche Schulen. Das haben wir nicht fertiggebracht, zu verändern.

Hat der nötige Umbau, der Transformationsprozess, das Land insgesamt überfordert? Und ist das der tiefere Grund der Krise?

Um ein Rechtssystem umzubauen, genügen – sagen wir – ein paar Monate. Für einen grundsätzlichen Strukturwandel – drei bis acht Jahre. Aber die Mentalität umzugestalten – und da rede ich auch über uns selbst, über die Politiker – das dauert Jahrzehnte. Und wir sind noch am Anfang dieses Prozesses.

War der Bruch mit der realsozialistischen Vergangenheit zu groß oder war er nicht groß genug? Oder, um die Frage von Bruch und Kontinuität zu personalisieren: Sie waren als junger Mann ein kommunistischer Jugendfunktionär, sozusagen ein Nachwuchskader. Sie wurden nach der Wende ein erfolgreicher Unternehmer.

Ich kenne das Argument. Wenn man versucht, die ungarische Linke zu kritisieren, dann wird immer wieder über die Herkunft der neuen ungarische Elite spekuliert. Aber unter den 100 reichsten Leute in Ungarn werden Sie keine drei finden, die etwas mit dem Regime zu tun hatten oder selbst Funktionär waren. Die Veröffentlichung, die das belegt, ist gerade vor einer Woche erschienen.

Die Frage drängt sich auf, weil man sich jemanden wie Sie in Deutschland nicht vorstellen kann. In den so genannten neuen Ländern, also der ehemaligen DDR, gibt es keinen ehemaligen FDJ-Funktionär, der die Chance hätte, Ministerpräsident zu werden – aber auch keinen, der Millionär geworden wäre.

Aber bin ich so eine mysteriöse Person, die die Macht von einem Ufer auf das andere herübergebracht hat? Oder Ferenc Gyurcsany mit seinen Fähigkeiten, der 1990 nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit zu einer Firma gegangen ist und als Officeboy angefangen hat? Und der dann anfing zu studieren und vorwärts kam, ganz ohne eine Parteimitgliedschaft.

Paul Lendvai, ein 1956 geflohener Publizist, der in Deutschland als Orakel für Ungarn gilt, hat die Krise auf den Nenner der „Dialogunfähigkeit“ gebracht. Ist das Problem, mit dem Ungarn es zu tun hat, eine Frage der politischen Kultur?

Ich bin damit einverstanden, aber weit über die politische Kultur hinaus. Die Unfähigkeit zum Dialog ist spürbar auf allen Gebieten des ungarischen Lebens, in der Wissenschaft, in der Kultur, auch in den Medien. Aber das ist ein Problem für die ganze Region, von Polen bis Kroatien. Also für alle die Länder, deren demokratische Vergangenheit sehr kurz war und die ihre nationale Unabhängigkeit für lange Zeit verloren hatten.

Ungarn ist ein kleines Land, aber Millionen Ungarn leben in den Nachbarstaaten, in der Slowakei, in Rumänien. Da wirkt noch immer der Vertrag von Trianon, der 1919 das damalige Ungarn faktisch um seine Hälfte amputiert hat. Das ist für das Selbstverständnis Ungarns lange ein traumatisches Problem gewesen. In Europa, das ja ein Modell des Zusammenarbeitens ist, gibt es die Euregios als Modelle der Zusammenarbeit. Könnte so etwas diese Situation befrieden?

Es gibt natürlich Programme, um die Beziehungen in diesen Regionen zu entwickeln. Aber genauso wie Liebe mit Geld nicht zu kaufen ist, sind diese historischen Wunden nicht durch Autobahnen und Brückenbau zu heilen. Liebeskummer wird auch nur durch die Zeit geheilt, und das Trauma, das dieser Vertrag von Trianon verursacht hat, kann auch nur durch die Zeit geheilt werden – und, vielleicht, durch Weisheit.

Ungarn hat im letzten Jahrhundert kein leichtes Schicksal gehabt. Es hat zwei Kriege mit verloren. Es hat vor fünfzig Jahren mit der Revolution ein großes Zeichen für den Willen zur Freiheit gesetzt. In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten hat es seinen Platz in Europa wiedergefunden. Worin sehen Sie seine Aufgabe? Was kann Ungarn aus diesen Erfahrungen heraus den Europäern sagen?

Ungarn kann sich am besten nützlich machen, wenn es die Stabilität in Südosteuropa stärkt und stützt. Das ganze Jahrhundert hat ja gezeigt, was geschieht, wenn dieser Hinterhof in Europa in Unordnung gerät. Im Ungarischen sagt man: Der Kluge lernt vom Schaden des anderen. Gibt es das auch auf Deutsch?

In Deutschland wird man vom eigenen Schaden klug.

Vielleicht könnte man von Ungarn lernen, dass Friedlosigkeit in der Seele auf lange Frist auch eine tatsächliche Friedlosigkeit schafft.

Das Gespräch führte Hermann Rudolph.

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