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Politik: „Wir lassen die Kanzlerin regieren“

Ministerpräsident Günther Oettinger über Fehler und die Freiheit, die zu kurz gekommen ist

Ministerpräsident Günther Oettinger über Fehler und die Freiheit, die zu kurz gekommen ist

Herr Oettinger, die Ministerpräsidenten der Union stehen im Verdacht, die Koalition und ihre Kanzlerin torpedieren zu wollen. Machen Sie deshalb Front gegen den Kompromiss zur Gesundheitsreform?

Der Verdacht ist abwegig. In Baden-Württemberg bekomme ich vorgehalten, ich würde die Landesinteressen nicht sichtbar genug verfolgen. Und wenn wir dann in Berlin die Sorge äußern, dass die Gesundheitsreform eine starke Umverteilung zu Lasten von Baden-Württemberg und Bayern mit sich bringen könnte, heißt es gleich, wir wollten eine Lunte an die Gesundheitsreform legen. Wir Länder haben handfeste Interessen. Die zu vertreten, ist nicht nur unser Recht, sondern unsere Pflicht.

Alt-Bundespräsident von Weizsäcker sagt: Die Kanzlerin muss regieren, aber die Länder müssen sie auch regieren lassen.

Wir lassen die Kanzlerin mit Sicherheit regieren und ich bin sicher, dass die Gesundheitsreform bis zum Jahresende stehen wird. Sie ist ein schwieriges und komplexes Bauwerk. Ihre Umsetzung benötigt viel Beratungszeit. Die Länder können ihre Interessen aber nicht ausblenden, es geht um unsere Bürger.

Wie soll eine Koalition funktionieren, wie kann sie für den Bürger vertrauenswürdig bleiben, wenn ausgehandelte Kompromisse im Nachhinein dauernd infrage gestellt werden?

Nur ein einziger Eckpunkt ist fragwürdig und deshalb muss über diesen Punkt neu verhandelt werden. Das ist wie im normalen Leben: Wenn ich einen Fehler gemacht habe, muss ich ihn korrigieren, anstatt mich von den Fakten und Argumenten zu entfernen. Denn dadurch wird alles nur noch schlimmer. Das Heranziehen von unabhängigen Experten kann in dieser Frage nur hilfreich sein.

Sie reden von der sogenannten Ein-Prozent-Regel. Warum wehren sich die Unionsländer so vehement dagegen, dass der Zusatzbeitrag der Versicherten auf ein Prozent des Haushaltseinkommens begrenzt wird?

Weil dann kein Wettbewerb entsteht. Bei einigen Allgemeinen Ortskrankenkassen würde das dazu führen, dass 70 bis 90 Prozent aller Versicherten befreit werden. Deshalb müssen wir die Überforderungsgrenze auf 2,5 bis 3 Prozent erhöhen.

Hat die Union sich bei den Spitzengesprächen in der Nacht zum dritten Juli über den Tisch ziehen lassen, als die Ein-Prozent-Regel vereinbart wurde?

Wir haben jetzt erst erkannt, dass dieser Kompromiss nicht praktikabel ist. Auch in der Politik müssen Fehler erlaubt sein. Nur: Wenn man einen falschen Eckpunkt aufstellt, muss es möglich sein, ihn zu korrigieren.

Hat Frau Merkel eingesehen, dass sie einen Fehler gemacht hat ?

Die Bundeskanzlerin wirbt gemeinsam mit uns bei den Sozialdemokraten dafür, die Ein-Prozent-Regel zu verändern. Sie weiß, dass nur dann wirklich Wettbewerb in das Gesundheitssystem gelangt.

Was geben Sie der SPD, wenn sie sich bewegt?

Wenn etwas objektiv untauglich ist, kann man doch nicht darauf beharren. Die Argumente sind so klar, dass sie für alle Beteiligten gelten sollten. Wir wollen ein Gesundheitswesen, in dem durch Wettbewerb bessere Qualität mit vertretbaren Kosten erreicht werden kann. Dieses Ziel müssen alle Beteiligten haben, nicht nur die CDU.

Ist denn das Argument der SPD falsch, dass Rentner und Geringverdiener überfordert werden?

Dass uns die Gesundheit mehr kosten wird, muss allen klar sein. Wenn jemand überfordert wird, greifen außerdem die Programme des Sozialstaats.

Würde die große Koalition ihre Legitimation verlieren, wenn die Gesundheitsreform nicht zustande käme?

Die große Koalition hat einige große Baustellen in der deutschen Innenpolitik zu bewältigen. Sie muss für mehr Wachstum, mehr Beschäftigung und für weniger Schulden sorgen. Dabei ist die Gesundheitsreform ein wichtiger Aspekt, aber nicht der überragende. Ich glaube, dass die Gesundheitsreform kommen wird, aber sie ist nicht die Schicksalsfrage dieser Koalition.

Wäre es ein gangbarer Weg, sich in dieser Wahlperiode auf die Lösung der akuten Finanzprobleme des Gesundheitswesens zu beschränken und eine grundlegende Reform auf die nächste Legislatur zu verschieben?

Ich halte die Streitpunkte für ausräumbar. Alle Beteiligten sollten sich auf die Lösung der Probleme konzentrieren und nicht auf irgendwelche Ausstiegsszenarien.

Trotzdem vertreten Sie den Standpunkt: Lieber keine Reform als eine mit Ein-Prozent-Klausel. Ist das Ihr letztes Wort?

Das letzte Wort steht an, wenn wir die abschließende Antwort der SPD bekommen haben. Aber klar ist: Mit der Ein-Prozent-Regelung würde ein starker planwirtschaftlicher Faktor eingeführt, der mich nicht überzeugen kann. Deshalb werben wir bei der SPD für die Verhinderung dieses einen Eckpunktes und für die getreue Einhaltung aller anderen Eckpunkte.

Baden-Württemberg und Bayern fordern außerdem für ihre Kassen mehr Geld aus dem Fonds. Stellen Sie damit nicht das Grundprinzip infrage, wonach jeder Versicherte gleich viel wert sein soll?

Wir haben in Deutschland nicht überall das gleiche Gehaltsniveau. In Baden-Württemberg werden höhere Tariflöhne als in Ostdeutschland oder Norddeutschland gezahlt. Wir haben höhere Lebenshaltungskosten. Ein Arzt zahlt in Baden-Württemberg deutlich mehr für eine Praxis als in Cottbus oder Dessau.

Die Union hat aber damit geworben, dass eine Kasse für jeden Versicherten gleich viel Geld bekommt, unabhängig von seinem Einkommen.

Für jeden Versicherten erhält die Kasse einen anderen Betrag aus dem Gesundheitsfonds. Nach dem Wunsch der SPD soll es einen Faktor geben, der das Geld nach dem Krankheitsrisiko verteilt. Und mit gleicher Berechtigung fordern wir einen Faktor, der die besseren Einkommen und höheren Kosten im Süden berücksichtigt. Dafür brauchen wir regionale Zu- und Abschläge. Außerdem lege ich großen Wert darauf, dass die bisherigen Mitarbeiter der Krankenkassen auch in Zukunft die Beiträge für den neuen Gesundheitsfonds einziehen, damit die Arbeitsplätze in den Regionen erhalten bleiben. Ich kämpfe außerdem für die AOK Baden-Württemberg, die nicht dafür bestraft werden darf, dass sie sparsam wirtschaftet und daher weniger verschuldet ist als andere Krankenkassen.

Die Kanzlerin will länderspezifische Interessen im Vermittlungsausschuss klären. Kann man das machen?

Das kann man. Aber ich rate dringend, die offenen Fragen zu klären, bevor der Gesetzentwurf in den Bundestag kommt. Wir wollen vernünftige Lösungen vor der parlamentarischen Behandlung, damit wir eine Nachtsitzung im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat vermeiden können.

Solides Handwerk war ein Kernversprechen der Union und ihrer Kanzlerin. Was wir jetzt erleben, ist das Gegenteil. Wie kann Ihre Partei diesen Eindruck wieder loswerden?

Wenn ich die letzten drei Wochen bilanziere, kann von unsolidem Handwerk keine Rede sein. Der Haushalt von Finanzminister Steinbrück ist handwerklich sauber, die Innovations- und Forschungsinitiative von Bildungsministerin Schavan ebenso.

Aber eben nicht die Gesundheitsreform.

Bei der Gesundheitsreform kann man Schulnoten verteilen, wenn der Gesetzesentwurf dem Deutschen Bundestag vorliegt. Noch sind wir im Labor, noch ist das Produkt nur in Umrissen erkennbar.

Aus dem Labor dringt ziemlich viel Dampf und man hört es knallen.

Das haben Labore so an sich und Regierungszentralen auch.

Sind Sie sicher, dass das Experiment noch unter Kontrolle ist?

Ja.

Und es schmerzt Sie auch nicht, dass die SPD im Streit um die Gesundheitsreform als ruhender Pol dieser Koalition dasteht?

Nicht nur bei der Union, auch in der SPD ist zur Gesundheitsreform eine gewisse Mehrstimmigkeit zu vernehmen.

Die SPD stellt die Eckpunkte aber nicht infrage.

Sie legt sie auf Arbeitsebene aber teilweise einseitig und teilweise falsch aus. Wir erwarten vom Gesundheitsministerium, dass es nicht Parteipolitik macht, sondern ein objektiver Sachwalter von gefundenen Eckpunkten ist und in Kenntnis der Ansätze aller Beteiligten einen praktikablen Gesetzesentwurf vorlegt.

Die unionsregierten Länder sollen ihre Interpretation zur privaten Krankenversicherung jetzt in eigene Gesetzestexte gießen. Ist das Misstrauen gegenüber Ministerin Ulla Schmidt inzwischen so groß, dass die Länder dem Bund die Gesetzgebungskompetenz streitig machen?

Das ist ein ganz normaler Vorgang. Zuarbeiten der Länder und Textentwürfe hat es immer gegeben.

Herr Oettinger, in den Umfragen ist die Union inzwischen auf SPD-Niveau angelangt. Woran liegt das, wenn nicht am Gezerre um die Gesundheitsreform?

Dass wir ein Jahr nach der Bundestagswahl mit der Reformarbeit keine Höchstwerte erzielen würden, war absehbar. Spätestens im kommenden Jahr wird sich zeigen, dass die Konjunktur wächst und die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zunimmt. Damit wird auch eine wachsende Zustimmung zur großen Koalition und CDU/CSU einhergehen.

Haben Sie Verständnis für die Enttäuschung der Unionswähler, die das Profil der Partei in der großen Koalition nicht mehr so recht erkennen können?

Ich bin auch enttäuscht als Unionswähler, dass die CDU/CSU mit der SPD regieren muss. Aber Enttäuschungen gehören zur Wirklichkeit. Insofern sind die Umfragewerte auch ein Ausdruck der beschränkten Spielräume und Handlungsmöglichkeiten unserer Partei in der großen Koalition.

Ist sich die Union selbst denn so sicher, wo sie steht? Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers spricht mit Blick auf die Steuersenkungspolitik der CDU immerhin von Lebenslügen.

Der Begriff Lebenslüge ist abwegig, und die inhaltlichen Schlussfolgerungen, die Jürgen Rüttgers aus dem mittelprächtigen Abschneiden der Union bei der Bundestagswahl zieht, sind es ebenfalls. Es wäre ein Fehler, wenn die Union in der großen Koalition mehr sozialpolitische Akzente setzen würde. Wir müssen dafür einstehen, Arbeitnehmer und Unternehmer zu entlasten durch Senkung der Lohnnebenkosten, der Ertragssteuer, mittelfristig auch durch Senkung der Lohn- und Einkommenssteuer. Daran führt kein Weg vorbei, wenn wir den Standort Deutschland attraktiv halten und die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland vermindern wollen.

Also braucht die Union mehr Merz und weniger Rüttgers?

Die Leitziele der Union heißen Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. In den letzten Jahrzehnten hat die Union aber Solidarität und Gerechtigkeit so stark betont, dass die Freiheit verschüttet wurde. Wir brauchen eine Senkung der Staatsquote, mehr Eigenverantwortung, mehr Leistungsprinzip. Nur dann können Wachstum und Beschäftigung steigen und nur dann kann die Union wieder mit einer Zustimmung von deutlich über 40 Prozent rechnen.

Wir halten also fest: Günther Oettinger hält die Steuersenkungsbeschlüsse des Leipziger Parteitags hoch. Gilt das auch für den Rest Ihrer Partei?

Das werden wir auf dem Parteitag im November in Dresden sehen. Ich glaube, ja. In den ordnungspolitischen Fragen haben wir keinen Ergänzungsbedarf, da sind die Entscheidungen des Leipziger Parteitags aktueller als jemals zuvor.

Bei der Unternehmenssteuerreform stemmt sich die SPD gegen eine reale Steuerentlastung der Wirtschaft. Steuert die Koalition hier auf die nächste Krise zu?

Die SPD muss wissen, dass eine Entlastung von fünf Milliarden Euro jährlich standortpolitisch das Mindeste ist. Ohne diese Nettoentlastung macht die Reform keinen Sinn. Ansonsten hätten wir kein Zeichen für Investitionen und für den Erhalt von Produktionsstätten in Deutschland gesetzt.

Das Interview führten Robert Birnbaum, Cordula Eubel und Stephan Haselberger. Das Foto machte Mike Wolff

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