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Politik: „Wir lassen uns nicht mehr spalten“ Daniel Cohn-Bendit über alte und neue Ängste

Ist die EUOsterweiterung eine Erfolgsgeschichte, oder hat sie uns überfordert? In Deutschland wird die Erweiterung vor allem als Verstärkung der Wirtschaftskrise und des Sozialabbaus wahrgenommen.

Ist die EUOsterweiterung eine Erfolgsgeschichte, oder hat sie uns überfordert?

In Deutschland wird die Erweiterung vor allem als Verstärkung der Wirtschaftskrise und des Sozialabbaus wahrgenommen. Es wird nur gesehen, dass Standorte in den Osten verlagert werden und Arbeitskräfte in den Westen kommen. Klar ist jedoch, dass es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs keine Alternative zur Aufnahme der Osteuropäer gab.

Die Befürchtungen, die vor der Erweiterung geäußert wurden, haben sich aus Sicht der Bürger also bestätigt.

Die Ängste sind nicht verflogen, was aber nicht heißt, dass sie mit der Realität übereinstimmen. Wenn man sich die deutsche Außenhandelsbilanz anschaut, kann man sehen, wie sehr auch wir von der Erweiterung profitieren. Die deutschen Exporte in die neuen Mitgliedstaaten übersteigen bei weitem die Importe osteuropäischer Produkte.

Ist auch die Angst vor der Liberalisierung des Dienstleistungssektors überzogen?

Es gibt natürlich Branchen und Regionen, in denen die Arbeitsplatzbedrohung als real empfunden wird. Ein Beispiel sind die Schlachthöfe in Niedersachsen, in denen inzwischen überwiegend Polen als Scheinselbstständige arbeiten.

Gibt es Wahrnehmungsunterschiede in Frankreich und Deutschland?

In Frankreich hat die Debatte über die gepante Dienstleistungsrichtlinie ebenso hohe Wellen geschlagen wie in Deutschland. Darüber hinaus ist vor allem die Verlagerung von Produktionsstätten in den Osten ein Thema. Aber auch hier gilt: Die Vorteile überwiegen, französische Handelsketten etwa sind Marktführer in den Beitrittsstaaten. Wir sollten nicht vergessen, dass die Osterweiterung Europa stabilisiert und sicherer gemacht hat. Auch in Bezug auf die Globalisierung haben wir mehr Gewicht.

Wie kann Europa sein Gewicht einbringen?

Europa könnte bei der Welthandelsorganisation durchaus bestimmte Steuern durchsetzen oder andere Maßnahmen zur Kontrolle der Märkte.

Europa spricht selten mit einer Stimme.

Das wird sich ändern. Die neuen Mitglieder wissen, dass sie gegen das aufkommende China oder gegen Indien gemeinsame Interessen mit den alten EU-Staaten haben. Und ich glaube, die Polen sind im Nachhinein auch nicht sehr glücklich mit ihrer Entscheidung, in den Irak zu gehen. Europa wird sich künftig nicht mehr so leicht spalten lassen.

Dennoch ist das Projekt Europa gefährdeter denn je. Wird die Verfassung an Frankreich scheitern?

Wenn das Verfassungsreferendum scheitern würde, wäre das ein schwerer Rückschlag. Deshalb kämpfe ich dafür, dass die Franzosen am 29. Mai mit Ja stimmen.

Kann der Streit um die Beitritte Rumäniens und Bulgariens die negative Stimmung in Frankreich weiter anheizen?

Die Stimmung in Frankreich hat innenpolitische Gründe. Die Menschen wollen Präsident Chirac die rote Karte zeigen. Was Rumänien und Bulgarien betrifft, so haben die europäischen Grünen dafür plädiert, die Abstimmung über die Beitritte zu verschieben. Das hat aber nichts mit dem Referendum in Frankreich zu tun. Besonders Rumänen hat massive Defizite bei der Korruptionsbekämpfung, der Pressefreiheit und den Menschenrechten. Hier hätten wir klare Bedingungen stellen müssen.

Das Gespräch führte Ulrike Scheffer.

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