zum Hauptinhalt
Nach dem Atomunfall von Fukushima wurde der heute 65-Jährige im Mai 2011 zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten gewählt. Seine Popularität ist ungebrochen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Ministerpräsident Winfried Kretschmann: „Wir wollen doch keine Heroinfabrik bauen“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Interview über die Radikalisierung von Bürgerprotesten, die Steuerpläne der Grünen und seinen Kampf gegen pädophile Aktivisten.

Von

Herr Ministerpräsident, die Zeit des Durchregierens sei zu Ende, haben Sie im Koalitionsvertrag versprochen. Was ist zwei Jahre später von diesem Versprechen noch übrig?
Alles.

Waren die Erwartungen nicht zu groß?
Die Gefahr besteht immer. Wir leben in einer Zeit, in der Halbsätze ganzer Sätze zu ganzen Sätzen werden. Der ganze Satz lautet: Die Politik des Gehörtwerdens bedeutet nicht, dass man die in der Verfassung verankerten Grundstrukturen demokratischer Entscheidung infrage stellt.

Wer tut das denn?

Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Wir wollen im Schwarzwald einen Nationalpark einrichten. In Umfragen von sieben betroffenen Kommunen haben die Bürger dort den Park mit großer Mehrheit abgelehnt. Manche beschweren sich nun, wir hätten sie betrogen. Nun, wir gehen ernsthaft auf deren Argumente ein, wir treten in den Diskurs, wir haben zahlreiche Anregungen und Bedenken aus der Region berücksichtigt. So sind fünf dieser sieben Gemeinden nicht mehr vom Nationalpark tangiert. Und wir sind stärker in die Höhenlagen gegangen, wo es weniger Holzertrag gibt. Aber wir haben nie einen Zweifel daran gelassen: Über einen Nationalpark entscheidet der Landtag, es gibt kein lokales Vetorecht.

Für das Missverständnis sind Sie nicht verantwortlich?
Ich habe mir da wenig vorzuwerfen. Ich habe schon im Wahlkampf gesagt, ich will aus Baden-Württemberg nicht den größten Debattierklub aller Zeiten machen, in dem nichts mehr entschieden wird. Ich habe immer gesagt: Am Schluss entscheiden die Institutionen, die unsere Verfassung vorsieht.

Die Opposition wirft Ihnen trotzdem vor, Sie hätten Ihr Versprechen gebrochen.
Wir haben kein Versprechen gebrochen. Bleiben wir beim Beispiel Nationalpark Schwarzwald. Die große Mehrheit der Bürgermeister aus der betroffenen Region hat mir erst kürzlich bestätigt, dass die Landesregierung einen vorbildlichen Prozess der Bürgerbeteiligung hinbekommen hat. Wir haben sogar bei dem zentralen Gutachten die Bürger einbezogen, sie haben 1600 Fragen formuliert, die allesamt beantwortet wurden. Trotzdem hat sich in einigen betroffenen Gemeinden eine sehr emotionale Stimmung dagegen aufgebaut. Ich gebe zu: Gegen solche emotionalen Radikalisierungen, die von Minderheiten ausgehen, haben wir bislang noch kein Rezept.

Hat Sie die Härte des Widerstandes im Schwarzwald überrascht?
Schön war das nicht. Ich bin persönlich hingefahren und bin in einen Hexenkessel geraten. Dabei haben wir nur vor, ein Naturreservat einzurichten. Manche tun so, als wollten wir eine Heroinfabrik in den Schwarzwald stellen. Die Mehrheit der Bevölkerung in der betroffenen Region ist laut Umfragen übrigens dafür.

Drehen wir die Frage mal um: Wo hat Ihre Politik des Gehörtwerdens funktioniert?
Moment mal, Sie hat im Schwarzwald sehr wohl funktioniert. Politik des Gehörtwerdens bedeutet, dass jeder gehört wird, aber nicht, dass jeder erhört wird mit seinem Anliegen. Das gilt übrigens für beide Seiten. Sie hat auch im Konflikt um Stuttgart 21 geklappt, und zwar hervorragend. Die von uns vor der Wahl versprochene Volksabstimmung hat über den Tiefbahnhof entschieden und einen quer durch die Bevölkerung erbittert geführten Streit weitgehend befriedet.

Die Mehrheit war aber zum Leidwesen Ihrer Partei für den Bau.
Und ich habe dieses Votum unmittelbar akzeptiert. Gerade als Befürworter von Volksabstimmungen sollten wir nicht glauben, dass sie immer für uns ausgehen. Für die Grünen war das deshalb lehrreich. Das Vertrauen in die Demokratie ist nach der Volksabstimmung über Stuttgart 21 gestiegen, wie Umfragen zeigen. Das ist mir wichtig.

Wie sieht nach zwei Jahren die Bilanz der Bürgerbeteiligung aus?
Wir haben zwei Jahre Erfahrung mit einer Praxis, mit der die Schweiz seit 150 Jahren umgeht. So etwas einzuüben dauert sehr, sehr lange. Mein Maßstab ist: Die Politik des Gehörtwerdens ist dann erfolgreich, wenn die Zivilgesellschaft den gleichen Zugang zur Gesetzgebung hat, wie ihn starke Lobbygruppen schon immer haben.

Kretschmann über Steuerpläne und Pädophilie.

Kommen wir zu Ihrer Partei. Ist es sinnvoll, das Steuerkonzept der Grünen den Menschen auf dem Klageweg näherzubringen?
Das höre ich zum ersten Mal.

CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt hat falsche Behauptungen über die Belastung von Familien aufgestellt. Die Bundes-Grünen wollen ihm nun durch eine Unterlassungsklage den Mund verbieten.
Ich halte nicht so viel davon, dass wir uns in politischen Auseinandersetzungen juristisch beharken. Falsche Behauptungen sollte man in erster Linie politisch bekämpfen. Ich kenne ja die rustikale Art des Herrn Dobrindt und ich finde, die spricht meistens für sich.

Was sagen denn die mittelständischen Betriebe in Baden-Württemberg zu den Steuerplänen Ihrer Partei?
Mein Eindruck ist, dass die Erhöhung des Spitzensteuersatzes zähneknirschend angenommen wird. Aber gegen eine Vermögensabgabe oder Vermögenssteuer gibt es erbitterten Widerstand.

Was sagen Sie den Unternehmern?
Ich erkläre denen: Ihr verlangt von uns, dass wir mehr Geld in die Infrastruktur stecken, und zwar deutlich mehr, als mein Haushalt hergibt. Ich muss in Bildung, Forschung und Verkehrswege investieren, aber auch die Schuldenbremse einhalten. Das geht nicht ohne Steuererhöhungen.

Als junger Mann war Kretschmann kurze Zeit Mitglied des „Kommunistischen Bundes Westdeutschland“. Gegen radikale politische Heilsversprechen ist er seither immun.
Als junger Mann war Kretschmann kurze Zeit Mitglied des „Kommunistischen Bundes Westdeutschland“. Gegen radikale politische Heilsversprechen ist er seither immun.

© Doris Spiekermann-Klaas

Verstehen Sie denn die Sorgen des Mittelstandes?
Ich verstehe die Befürchtungen natürlich. Die Unternehmen befinden sich Tag für Tag in einem beinharten globalen Wettbewerb. Ich weiß, dass wir die Mittelständler belasten. Aber wir Grüne haben uns auch klar festgelegt, dass die Gesamtbelastung erträglich bleibt, es keine Substanzbesteuerung geben wird und die Investitionskraft der Unternehmen nicht gefährdet wird. Ich bin da im Wort: Wir werden nichts machen, was der mittelständischen Wirtschaft schadet.

Manche Beobachter sagen den Grünen voraus, dass sie mit ihren Steuererhöhungen im Wahlkampf die gleichen schlechten Erfahrungen machen werden wie Angela Merkel mit Professor Kirchhof im Jahr 2005. Besteht diese Gefahr?
Ich sehe die Gefahr, dass nicht wirklich real gerechnet wird, wer in welchem Umfang getroffen wird. Beim Thema Steuern wird es sofort emotional. Mir hat gestern ein Unternehmer gestanden, dass er so verunsichert ist, dass er bis zur Bundestagswahl mit Investitionen warten will. Wir müssen diese Verunsicherung ernst nehmen und harte Überzeugungsarbeit leisten.

Bei den Grünen hegen manche einen Groll auf Sie. Sie hätten mit Ihrer Warnung vor einer zu hohen Belastung erst den Gegenwind provoziert. Stehen Sie dazu?
Das ist weit hergeholt. Der Mittelstand ist das Rückgrat der Wirtschaft in Baden-Württemberg, wir sind der wirtschaftliche Motor dieser Republik. Deshalb habe ich vor dem Parteitag eine rote Linie kenntlich gemacht. Ich war höchst loyal und habe die Beschlüsse mitgetragen. Das ist mir nicht leicht gefallen. Aber es gehört nun mal dazu, dass man in einer Partei Kompromisse machen muss. Und nicht zuletzt durch meine Intervention haben wir ja bewirkt, dass vor der Realisierung die Gesamtbelastung betrachtet wird und Substanzbesteuerung und mögliche Einbußen der Investitionskraft ausgeschlossen werden.

Herr Kretschmann, ausgerechnet im Wahlkampf muss sich Ihre Partei mit dem Einfluss pädophiler Gruppen in ihrer Frühzeit auseinandersetzen. Gehen die Grünen richtig damit um?
Ja. Es war mein Vorschlag, diese Vorgänge aufarbeiten zu lassen. Die Lehre aus dieser Zeit ist, dass es kein Wert an sich ist, Tabus zu brechen. Es war zum Beispiel richtig, das Tabu der Homosexualität zu brechen. Aber sexuelle Beziehungen mit Kindern lassen sich niemals rechtfertigen. Das wäre zu jeder Zeit ein falscher Tabubruch.

Haben Sie selbst Erfahrungen mit Pädophilen bei den Grünen gemacht?
Ja. Die haben uns tyrannisiert und versucht, unsere Parteitage zu sprengen. Ich bin mal in diesen eigenartigen Arbeitskreis einbestellt worden, der auch pädophile Interessen vertrat. Das war in den frühen 80ern. Damals hatte ich selbst Kinder im Kindergartenalter. Da sind die aber wirklich an den Falschen geraten. In Baden-Württemberg haben die gar nichts ausgerichtet. Wir haben dem schnell ein Ende bereitet, daran war ich persönlich beteiligt.

Instrumentalisiert die politische Konkurrenz das Thema, um die Grünen als moralisch zweifelhaft erscheinen zu lassen?
Wir müssen das aushalten. Die Grünen haben in ihrer Geschichte so viel moralisiert, da dürfen wir jetzt nicht beleidigt sein. Allerdings sollte die politische Konkurrenz auch bei den Fakten bleiben. Daniel Cohn-Bendit war und ist kein Päderast. Das bestätigen übrigens auch alle, die damals mit ihm zu tun hatten.

Das Gespräch führten Cordula Eubel und Hans Monath.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false