zum Hauptinhalt

Zeitschriften: Wo sind all die Gedanken hin?

Ob „Merkur“, „Kursbuch“, "Polar" oder "Kultur & Gespenster": Intellektuelle Zeitschriften sind (wieder) im Kommen - jenseits der alten politischen Utopien. Welche Sehnsucht spricht daraus?

Von Gregor Dotzauer

Wie umstürzlerisch war dem „Kursbuch“ einmal zumute. Seine Autoren und Leser hatten den Kampf gegen die Notstandsgesetze im Sinn, die Befreiung Lateinamerikas, den Widerstand gegen den amerikanischen Imperialismus und später die Situation der politischen Gefangenen. Und nun, 170 Nummern nach dem ersten, 1965 von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Band, nach Verlags-, Konzept- und Formatwechseln und einem vierjährigen Exitus, fordert der Münchner Soziologe Armin Nassehi dazu auf, die Idee eines unmittelbaren politischen Eingreifens aufzugeben. In seinem Leit-Essay beschreibt der neue Herausgeber des früheren Zentralorgans der APO die Krisenhaftigkeit der Moderne als produktiven Normalfall.

Statt mit der Anmaßung eines Souveräns im Ausnahmezustand aufzutreten, komme es darauf an, endlich die Selbstorganisation der Gesellschaft zu akzeptieren. Die gelassene Beobachtung aus systemtheoretischer Sicht hat die Zentralperspektive ersetzt. Das revolutionäre Vokabular ist ausgeglüht: Die alten Leser, für die das „Kursbuch“ um 1968 ein geistiges Lebensmittel war, das den Ausweg aus Kiesingers unerschütterlich prosperierender Bundesrepublik versprach, hätten wahrscheinlich gar nicht verstanden, was Nassehi mit „Krisen lieben“ meint, seinem Thema zum Neuauftakt.

Das „Kursbuch“ ist nicht die einzige intellektuelle Zeitschrift mit politischer Ausrichtung, die sich und ihre Aufgaben gerade neu definiert. Seit Januar hat der Kunsthistoriker Christian Demand, wie Nassehi Jahrgang 1960, den „Merkur“, die 1947 gegründete "Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken" übernommen. Auch die linksliberalen „Blätter für deutsche und internationale Politik“, 1956 zum ersten Mal erschienen, haben eine erfolgreiche Vitalisierung hinter sich. Mehrere Neugründungen sind zu verzeichnen. Die Halbjahreszeitschrift „Polar“ bringt mittlerweile zum elften Mal Politik, Theorie und Alltag zusammen und widmet sich unter dem Motto „wild & gefährlich“ dem Thema Sicherheit. „Kultur & Gespenster“ wiederum wildert zum dreizehnten Mal in kulturhistorischen Gefilden: In der aktuellen Ausgabe „Stabile Seitenlage“ wird unter anderem gegen die aktuelle Hochschulpolitik polemisiert.

Keine dieser Zeitschriften wird je wieder die kultische Verehrung des alten „Kursbuchs“ genießen. Einfluss und Auflage, Kurz- und Langlebigkeit hängen wie damals entscheidend vom Geist der Zeit ab. So erschien Nummer 13 mit dem Generalthema „Die Studenten und die Macht“ 1968 im Suhrkamp Verlag mit einer Erstauflage von 50000 Exemplaren – das neue „Kursbuch“ im Hamburger Murmann Verlag bescheidet sich, bei einem Einzelpreis von 19 Euro, mit 8000 Exemplaren und liegt damit deutlich über verwandten Unternehmungen.

Die Druckauflage des „Merkur“ beträgt rund 4500 Exemplare, die von „Polar“ 4000, die von „Kultur & Gespenster“ 2000. Eine Ausnahme bildet, mit einer Auflage um die 20000 Exemplare, nur „Lettre International“, das seit 1984 erstklassige Essays und Reportagen veröffentlicht. Sie alle aber folgen eher einer Idee als wirtschaftlichen Interessen. Das geht, wo die Mitarbeiter nicht an den eigenen Geldbeutel gehen, oft nur mit fremder Hilfe. So ist der „Merkur“ eingebunden in die Ernst H. Klett Stiftung, „Kultur & Gespenster“ wurde zeitweise vom Deutschen Literaturfonds alimentiert.

Was hat sich verändert? Das eine ist die politische Großwetterlage. Der von Klaus Wagenbach herausgegebene „Freibeuter“ etwa – 1979 im Namen von Pier Paolo Pasolinis „Scritti corsari“ angetreten und 1999 nach 80 Nummern eingestellt – war in den ersten Jahren ein Beiboot der grünen Flotte, die das deutsche Parlament von links eroberte. Mit der Wandlung der Grünen zur bürgerlichen Partei verlor er seinen Schwung.

Das andere ist die publizistische Situation. Die Feuilletons der überregionalen Blätter wurden zum Forum von Debatten, die früher fast ausschließlich in Zeitschriften stattfanden. Beide müssen inzwischen die Substanz ihrer Beiträge gegen die Meinungsstürme verteidigen, die ihnen aus dem Internet entgegenwehen. Und schließlich hat das Sendungsbewusstsein vieler Intellektueller abgenommen, vielleicht auch ihr Talent zur geschliffenen Äußerung und eine Lust auf Theorien, die geeignet wären, die seit Jahrzehnten regierenden Denkmuster von Frankfurter Schule, Poststrukturalismus oder Luhmannscher Systemtheorie zu überwinden.

„Intellektuell liegt die Republik am Boden“, schimpft der leitende „Polar“- Redakteur Peter Siller, „wir leben in Zeiten, in denen die Stichwortgeber Peter Sloterdijk, Richard David Precht und Helmut Schmidt heißen. Es gibt in Deutschland herausragende Wissenschaftler, aber kaum öffentliche Intellektuelle, die sich an einem ernsthaften politischen Orientierungsdiskurs beteiligen. Die aktuelle Finanzkrise zeigt dies überdeutlich: Statt einer Reaktivierung der politischen Sphäre – auch des politischen Denkens – starren alle auf ökonomische Experten, die ihrerseits am Schwimmen sind."

Man muss dafür gar nicht die Idee einer Gegenöffentlichkeit mobilisieren, die das „Kursbuch“ in seinen Anfängen propagierte. Denn das alles beherrschende Zentrum, das Abweichungen definieren würde, hat sich verflüchtigt. Im Bewusstsein, dass die Welt, die das „Kursbuch“ hervorbrachte, ein für allemal untergegangen ist, zielt Nassehi vielmehr auf eine diffuse Mitte, die zwar alles weiß, aber „nichts Hegemoniales mehr hat. All die eindeutigen, ihrer selbst gewissen Expertisen in Politik und Ökonomie machen sich doch nur deshalb nicht lächerlich, weil der größte Segen dieser Gesellschaft das schnelle Vergessen ist. Dieselben, die vor 2008 erklärten, es könne keine Krise kommen, erklären nun, wie es zur Krise kommen musste. Das exakt zu erklären, ist subversiv.“

Nassehis magisches Wort lautet „Rekombinationskompetenz“. Sie soll die im eigenen Saft schmorenden Partialwelten von Politik, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft zusammenführen: „Es geht um Problemlösungen, nicht um ihre Simulation in Weltanschauungsdebatten.“ Doch bezeichnen links und rechts allen „What’s left“-Debatten der vergangenen 30 Jahre zum Trotz nicht immer noch unterschiedliche Wahrnehmungen von Welt, unterschiedliche Lösungen, ja unterschiedliche Empfindungen, was überhaupt als Problem zu definieren wäre? Siller geht die Verabschiedung der Begriffe mit Recht zu schnell. Der 1970 geborene Jurist, lange mit den Grünen assoziiert und heute Geschäftsführer des Exzellenzclusters „Normative Ordnungen“ an der Frankfurter Goethe- Universität, versteht „Polar“ jedenfalls als dezidiert linke Zeitschrift. „Links im Sinne eines Zugewinns an Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Demokratie.“ Jeder einzelne dieser Begriffe mag als Hülse dienen können, aber Sillers Anliegen ist es gerade, ihnen in postdemokratischen Zeiten ihre Sinnhaftigkeit zurückzuerstatten.

Dabei wird sich, so Siller, auch die „gehobene Mittelschicht“, der er sich selbst und die „Polar“- Leser wohl oder übel zurechnet, in Frage stellen müssen. „Sie ist Teil des Problems geworden“, sagt er. „Sie verteidigt ihre Besitzstände und zieht Stacheldraht um ihre Häuser. Wie eine linke, solidarische, von unten durchlässige Mitte aussehen könnte, ist eine interessante Frage: Wie denkt man die Interessen derer mit, die das Blatt weder lesen noch darin schreiben? Journalismus sollte seiner Klientel, ähnlich wie Parteien, ruhig etwas zumuten.“

Die Zumutung liegt vielleicht schon im Ton. Nassehi hat die etablierten, mittel bis gut gebildeten 30- bis 55-Jährigen im Auge, „die sich nicht mehr an die Debatten der 70er und 80er Jahre erinnern und an die Ästhetik der schnellen, klaren, ökonomisierten Lösungen glauben. Die muss man erreichen und ihnen andere Sprech- und Denkweisen nahe bringen.“

Die großen Tageszeitungen können das nur bedingt leisten. Sie stehen im Dienst der aktuellen Information und haben inzestuöse Reflexe und Rituale entwickelt, die sie zum sofortigen Schlagabtausch verurteilen. Siller mag monieren, dass ihr politisches Feuilleton in weiten Teilen „unglaublich ausgewogen und unpositioniert“ oder aber „provokativ, kurzlebig und beliebig“ sei. Doch im Ganzen muss man wohl feststellen: Es herrscht vor allem Aufgabenteilung – nicht zuletzt bei den möglichen Textlängen. Im Feuilleton, sagt Jan-Frederik Bandel, der 1977 geborene Mitherausgeber von „Kultur & Gespenster“, seien 12 000 Zeichen das Höchste der Gefühle. „Da werden wir gerade erst warm“ – wobei die Geduld des „Merkur“ bei 40 000 Zeichen auch ein Ende findet.

Das Privileg der Zeitschriften besteht in einer langsameren Umschlagsgeschwindigkeit und dem Luxus, sich etwa zu Gedenktagen nicht äußern zu müssen. Ihre Chance kann, wie Nassehi erklärt, darin liegen, dass sie dem Anspruch auf Überblick, den das Feuilleton vor sich herträgt, nicht als Spartenangebot genügen müssen. Die Aufgliederung der Zeitung in Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Sport sei „bis in den Habitus der entsprechenden Redaktionen hinein Ausdruck einer Gesellschaft, deren Differenzierung und Komplexität zur Sprachlosigkeit zwischen den Ressorts führt.“

Die angelsächsischen Schlachtrösser, das Londoner „Times Literary Supplement“ und die „New York Review of Books“, machen vor, wie das Gegenteil aussehen könnte. Und ihr jugendliches Pendant, das 2004 gegründete „n+1“, beweist, dass sich ein Magazin, weit über die gedruckten Beiträge seiner Autoren Mark Greif, Keith Gessen oder Elif Batuman hinaus als intellektuell und literarisch prägend erweisen kann. Diese Kraft resultiert auch daraus, dass hier im Wesentlichen die Stimmen einer in den Mittsiebzigern geborenen Generation versammelt sind. Auch „Polar“ ist Siller zufolge ein Projekt von 25- bis 45-Jährigen. „Es heißt aber nicht, dass wir uns als Generationen-Sprachrohr verstehen. Die Generation gibt es ohnehin nicht, es gab sie auch 1968 nicht.“

Wie Zeitschriften sich öffentlich präsentieren

Was gemessen an den Vorbildern hierzulande geht, ist allerdings eine andere Frage. Nassehi mag die Essaykultur des „New Yorker“ auch für sein „Kursbuch“ verlockend finden – ein größeres Publikum konnte sich dafür nie begeistern. Es gehört zu den bitteren Erfahrungen der deutschen Pressegeschichte, dass Hans Magnus Enzensberger sein an den „New Yorker“ angelehntes Reportagemagazin „Transatlantik“, das er 1981 zusammen mit Gaston Salvatore in einer Startauflage von 150000 Exemplaren vom Stapel ließ, nie flott bekam. Schon im Jahr darauf wurden die beiden Dioskuren gefeuert, auf Sparkurs schleppte sich das Blatt mit wechselnden Redaktionen noch neun Jahre dahin.

So wenig die Erfahrung ausreicht, einer gemeinsamen Generation anzugehören, so sehr braucht es ein Minimum an gemeinsamer sozialer Energie. „Kultur & Gespenster“ setzt dabei aufs Informelle der eigenen Kreise. „Die einzige Alternative wäre der institutionalisierte Wahn eines ,Call for Papers’“, sagt Bandel. „Das mag in der Wissenschaft möglich, ja nötig sein, spielt sich bei uns aber durch gegenseitige Anregung und Aufregung ab.“ Der „Merkur“ zieht die Form eines Kolloquiums vor, das allvierteljährlich rund zehn Gäste in die Redaktionsräume der Berliner Mommsenstraße führt. „Wir müssen uns, weil wir nur drei Leute sind, die Redaktion eben ins Haus holen“, sagt Demand. Siller verweist stolz darauf, dass es inzwischen eine richtige kleine „Polar“-Community gebe, die sich in den Berliner Sophiensälen, der Galerie KOW in der Brunnenstraße oder der Frankfurter Karl-Marx- Buchhandlung treffe: „Texte ohne öffentlichen Austausch sind tot.“

Das Netz als virtueller Treffpunkt ist dabei hilfreich, aber kein Ersatz für leibhaftige Begegnungen. „Für Vertrieb, Fama und Kommunikation ist das Internet unentbehrlich“, sagt Bandel, der „Kultur & Gespenster“ aus der Website www.textem.de mitentwickelt hat. „Ansonsten liegt es uns fern, Blogs zu schreiben, Digitalbohème zu spielen oder von der demokratisierenden Wirkung des Web 2.0 zu schwärmen.“ Siller lässt zwar die Texte online stellen, ist aber überzeugt, dass Print nicht nur eine konzentriertere Art des Lesens bedeute, sondern auch zu einem konzentrierteren Prozess des Schreibens zwinge.

Umgekehrt hat Christian Demand in Form eines geplanten Blogs etwas nachzuholen. „Das Schöne am ,Merkur’ ist ja, und da lebt man vom symbolischen Kapital der Vorgänger, dass er sich einen gewissen autoritativen Gestus leisten kann“, sagt er. „Dieser Gestus signalisiert, dass es nicht nur um dahergelaufene Meinungen geht. Deshalb wäre es formatfremd gewesen, wenn man jemals eine Leserbriefecke eingerichtet hätte.“ Doch er ist überzeugt, dass die Attacken auf die politische Ausrichtung des „Merkur“ unter seinen Vorgängern glimpflicher ausgefallen wären, wenn ein Dialog möglich gewesen wäre. Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel hatten sich mitunter bis zur Lächerlichkeit gegen die vermeintliche Übermacht eines linken Gutmenschentums aufgelehnt, sie sangen das Lob des amerikanischen Irakkriegs und beschworen das Wunder der kapitalistischen Selbstheilungskräfte.

Intellektuelle Zeitschriften grenzen sich indes nicht nur gegen das Feuilleton ab, wo sie viele ihrer Autoren finden. Sie halten auch Distanz zu den Hochschulen. „Die Universitäten sind verödet“, sagt Bandel: „Administrationsregimes, Antragsprosa, Bachelor-Unwesen ohne Ende.“ Der promovierte Literaturwissenschaftler will sie dennoch nicht für tot erklären. Denn wo, fragt er, haben die, die vielleicht gegen die Akademie, vielleicht auch außerhalb von ihr denken und schreiben, ihr Handwerkszeug gelernt?

Das weiß auch Christian Demand, der für die Stelle beim „Merkur“ seine Professur an der Nürnberger Akademie der Bildenden Künste aufgegeben hat. „Klar wird da produktiv gedacht“, sagt er. „Da sind viel zu viele schlaue Menschen auf einem Haufen.“ Und Nassehi, der seinen Lehrstuhl an der Ludwig-Maximilians- Universität behalten hat, erklärt: „Die Hochschulen sind ein Problem, weil sie sich dem Diktat des Schnellen und der universalistischen Erfolgsmessung unterwerfen. Sie sind aber auch die Lösung, weil dort die unterschiedlichen Kompetenzen versammelt sind, die sich aufeinander beziehen müssen.“

Vielleicht ist das, in zeitgenössischer Fortführung des Humboldtschen Bildungsideals, die letzte Utopie, die das „Kursbuch“ noch formulieren kann. Als solche wäre sie aber kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.

Zur Startseite