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Politik: Zur falschen Zeit am falschen Ort

Murat Kurnaz war vier Jahre in einem amerikanischen Lager in Guantánamo inhaftiert. Eine Chronologie

3. Oktober 2001: Murat Kurnaz fliegt von Frankfurt/Main nach Karachi (Pakistan). Von dort reist der 19-Jährige mit dem Bus ins rund 700 Kilometer entfernte Lahore, wo er nach eigenen Angaben eine Koranschule besuchen will. Als er dort nicht aufgenommen wird, schließt er sich in Islamabad einer muslimischen Missionarsgruppe an, mit der er mehrere Wochen von Moschee zu Moschee zieht.

November 2001: Kurnaz wird in der Nähe von Peshawar bei einer Buskontrolle von der pakistanischen Polizei festgenommen und verhört. Er wird den Amerikanern übergeben.

Januar 2002: Die Bundesregierung erfährt durch Bundeswehr und Bundesnachrichtendienst, dass Kurnaz in einem amerikanischen Gefangenenlager im südafghanischen Kandahar inhaftiert ist. Das Bundeskriminalamt übermittelt vom Landeskriminalamt Bremen stammende Erkenntnisse über Kurnaz und sein Umfeld an einen Vertreter der amerikanischen Bundespolizei FBI.

Februar 2002: Der Deutsch-Türke wird als Terrorverdächtiger von Kandahar nach Guantánamo auf Kuba ausgeflogen. Dort wird er nach eigenen Angaben mehrfach verhört und gefoltert.

Mai 2002: Der Bremer Rechtsanwalt Bernhard Docke übernimmt das Mandat für Murat Kurnaz.

September 2002: Kurnaz wird in Guantánamo von drei deutschen Geheimdienstleuten vernommen. Der Türke soll Angaben zu seinem Lebenslauf machen und wird gefragt, ob er als Agent für deutsche Sicherheitsdienste arbeiten wolle. Kurnaz bejaht zunächst, weil er hofft, freizukommen. Das Verhör wird auf Tonband aufgezeichnet.

29. Oktober 2002: Im Kanzleramt sprecen die Chefs der Sicherheitsbehörden über ein angebliches Angebot der USA, Kurnaz freizulassen, der inzwischen als unschuldig gilt. Der damalige Chef des Bundesnachrichtendienstes, August Hanning, soll sich für eine Einreisesperre für den Türken ausgesprochen haben.

30. Oktober 2002: Nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“ will das Bundesinnenministerium Kurnaz’ Aufenthaltsgenehmigung für erloschen erklären lassen, weil dieser länger als sechs Monate nicht mehr in Deutschland war. Sein türkischer Pass soll bei den Amerikanern eingefordert werden, um die Seite mit dem Aufenthaltstitel zu vernichten. Doch die Amerikaner rücken den Pass nicht heraus.

9. November 2002: In einem internen Bericht an BND-Chef Hanning heißt es, die Amerikaner wollten Kurnaz wegen dessen Unschuld und als Zeichen der guten Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik freilassen. Die Deutschen lehnen ab. Angeblich sollen die USA damals als Gegenleistung für Kurnaz Freilassung verlangt haben, diesen nach seiner Rückkehr nach Deutschland dauerhaft zu observieren.

Oktober 2003: Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) spricht bei einem Besuch bei ihrem amerikanischen Amtskollegen John Ashcroft über Guantánamo und die internationale Kritik in Bezug auf den US-Stützpunkt. Anwalt Docke hofft, dass dabei die Sprache auch auf seinen Schützling kommt. Doch das Gespräch bleibt abstrakt.

April 2004: Kurnaz wird in Guantánamo zum zweiten Mal von einem deutschen Geheimagenten verhört.

August 2004: Die Bremer Behörden erklären Kurnaz’ unbefristete Aufenthaltserlaubnis für erloschen.

Oktober 2004: Der New Yorker Rechtsanwalt Baher Azmy versucht mehrfach, Murat Kurnaz in Guantánamo zu besuchen. Er wird weggeschickt mit der Begründung, der Türke wolle keinen Anwalt sehen. Nach mehrmaliger Abweisung beschwert sich Azmy schließlich beim Lagerkommandanten und wird endlich zu Kurnaz vorgelassen. Zudem erhält der Jurist nun auch Einblick in Kurnaz’ betreffende Militärakten.

Januar 2005: Eine amerikanische Bundesrichterin in Washington stuft Kurnaz’ Haft als illegal ein. Die Regierung geht dagegen in Berufung.

26. Oktober 2005: Aus einem Aktenvermerk des Auswärtigen Amtes geht hervor, dass die Frage der Wiedereinreise von Kurnaz laut Bundesinnenministerium und dem damaligen Chef des Bundeskanzleramtes, Frank-Walter Steinmeier, „mehrfach Gegenstand der nachrichtendienstlichen Lage“ war. Zudem hofften die Sicherheitsbehörden darauf, „von US-Seite weitere Informationen gegen Kurnaz zu bekommen, die den Verdacht der Unterstützung des internationalen Terrorismus erhärten“. Zudem wird vermerkt, Kanzleramtschef Steinmeier sei gegen die „Wiedereinreise“ von Kurnaz.

November 2005: Das Bremer Verwaltungsgericht stellt fest, dass Kurnaz seine Aufenthaltsgenehmigung nicht verloren hat.

Dezember 2005: Das Kanzleramt schreibt an Kurnaz-Anwalt Docke. Darin heißt es: Die Bundesregierung habe sich aus humanitären Gründen mehrfach gegenüber den US-Behörden für Herrn Kurnaz eingesetzt. Rechtsanwalt Docke wendet sich daraufhin an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Nach seinen Worten beginnt damit die Wende in dem Fall.

14. Juli 2006: Bundeskanzlerin Angela Merkel und der amerikanische Präsident George W. Bush sprechen bei ihrem Treffen in Stralsund über eine mögliche Freilassung von Kurnaz. Die Bundesregierung erklärt, die Verhandlungen seien weit fortgeschritten.

24. August 2006: Murat Kurnaz wird freigelassen und auf den amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Ramstein (Rheinland-Pfalz) ausgeflogen. Am folgenden Tag trifft er in Bremen ein.

November 2006: Der Deutsch-Türke sagt erstmals öffentlich aus. Vor dem CIA- Sonderausschuss des EU-Parlaments wirft er Bundeswehrsoldaten vor, sie hätten ihn im Januar 2002 in Kandahar misshandelt.

Dezember 2006: Die Tübinger Staatsanwaltschaft leitet ein Ermittlungsverfahren gegen zwei Soldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr ein.

17. und 18. Januar 2007: Kurnaz wiederholt seine Misshandlungsvorwürfe vor dem Verteidigungsauschuss sowie vor dem BND-Untersuchungsausschuss des Bundestages.

20. Januar 2007: Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ berichtet über Aussagen von KSK-Soldaten im Fall Kurnaz. Sie hätten gegenüber der Staatsanwaltschaft Tübingen angegeben, sie seien in Kandahar zur „Begleitung der Gefangenen vom Flugzeug zum Gefangenlager“ eingesetzt gewesen. Zur Tarnung hätten die Soldaten nach eigenen Aussagen ihre Hoheitszeichen abgeklebt oder mit Tarnfarben übermalt.

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