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Politik: Zuwanderung: Ein Sieg - und ein Desaster

Mit nichts kann man die rot-grüne Koalition zurzeit mehr reizen als mit dem Vorwurf, die Bundesregierung habe nicht genug geleistet. Dann wird stolz auf Errungenschaften verwiesen, die für tief greifende Veränderungen stünden: die doppelte Staatsbürgerschaft, die Homo-Ehe, der Atomausstieg, die Ökosteuer.

Mit nichts kann man die rot-grüne Koalition zurzeit mehr reizen als mit dem Vorwurf, die Bundesregierung habe nicht genug geleistet. Dann wird stolz auf Errungenschaften verwiesen, die für tief greifende Veränderungen stünden: die doppelte Staatsbürgerschaft, die Homo-Ehe, der Atomausstieg, die Ökosteuer. Und diese Reformen stehen in der Tat für einen neuen Gesellschaftsentwurf in Deutschland. Das Pech für die Regierung ist nur: Eine Mehrheit der Wähler hat offenbar andere Sorgen.

Zum Thema Online Spezial: Streit um die Zuwanderung Sie beklagt die Pisa-Studie oder die Arbeitslosigkeit, das geringe Wachstum oder die Holzmann-Insolvenz. Und sie hat Systemveränderungen ganz anderer Art vor Augen, die von Rot-Grün eingeleitet, aber nicht vollendet worden sind: im Steuerrecht, bei den Renten, im Gesundheitswesen. Das gestern im Bundesrat trickreich verabschiedete Zuwanderungsgesetz symbolisiert diesen Widerspruch auf einzigartige Weise. Die Regierung sieht darin die Krönung ihres Reformwerkes, einen "Paradigmenwechsel", wie es Bundesinnenminister Schily am Freitag ausdrückte.

Ihr Pech auch hier: Mit kaum einem anderen Thema lassen sich so wenig Sympathiepunkte gewinnen wie mit diesem, und darüber kann auch nicht die Zustimmung der Vertreter von Kirchen, Gewerkschaften oder Wirtschaftsverbänden hinwegtäuschen. Trotzdem war ein Gesetz, das die Realität der Einwanderung anerkennt und zu ordnen versucht, zwingend. Das weiß auch die Union, die dieses Gesetz ablehnte.

Doch ging es beiden Seiten nicht mehr um ein vernünftiges Einwanderungsgesetz, sondern um eine gute Ausgangslage für den Wahlkampf. Die Union hat treffende Argumente gegen einzelne Bestimmungen des Gesetzes, ausgerechnet der SPD-Ministerpräsident Manfred Stolpe trug die wichtigsten Kritikpunkte im Bundesrat vor: die vorgesehenen Härtefallregelungen etwa, der Zeitrahmen für die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen, die Verteilung der Integrationskosten. Aber sie hat eben auch im Blick, wie viele Emotionen sich durch das Thema im Wahlkampf mobilisieren lassen, und sie nimmt dabei auch die schäbigen in Kauf. Andererseits kann man die Wähler mit ihren Ängsten vor mehr Zuwanderung gerade in Krisenzeiten nicht einfach überrumpeln.

Rot-Grün hat sich mit dem Gesetz verspekuliert. Die Regierung hat ein kompliziertes, schwer zu vermittelndes Gesetzeswerk mit zu großer Eile verabschieden wollen. Sie hat den Weg in den Vermittlungsausschuss ausgeschlossen. Der Kanzler hatte es dem Koalitionspartner versprochen und er fürchtete zudem, dass der lange Weg im Vermittlungsausschuss das Thema dem Wahlkampf ausliefert. Aber wie kann man zum Marsch durch die Instanzen blasen, wenn solche Risiken und Schäden eintreten können?

Der schwarze Freitag im Bundesrat hat vor allem eines gezeigt: Es ging um die taktische Aufstellung. Auf einmal will die Union gar nicht mehr so dringend das Bundesverfassungsgericht anrufen, obglich das SPD-Ja und das CDU-Nein aus Brandenburg, das vom SPD-Bundesratspräsidenten Wowereit als Ja gewertet wird, in der Verfassung nicht vorgesehen ist. Aber die Union erhofft sich so, die SPD und ihren Bundespräsidenten stärker in Verlegenheit zu bringen. Und plötzlich ist auch nicht mehr vom Bruch der Koalition in Brandenburg die Rede. Kaum hat Stolpe den Koalitionsbruch zugegeben, schon beginnt Schönbohm, die Scherben zusammen zu kleben.

Als Ergebnis des großen Tricksens steht Stoiber besser da. Die Front der Unionsländer hat gehalten, das Thema ist endgültig im Wahlkampf. Worum ging es eigentlich nochmal?

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