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Politik: Zweiter Anlauf

Der Osten bekommt seine Fördermittel, bis 2019. Er hat seinen Minister, der in den neuen Ländern Unternehmungsnetzwerke - was immer das sein soll - im Dutzend unterstützt.

Der Osten bekommt seine Fördermittel, bis 2019. Er hat seinen Minister, der in den neuen Ländern Unternehmungsnetzwerke - was immer das sein soll - im Dutzend unterstützt. Die Opposition ist damit unzufrieden und fordert mehr und Besseres. Und wenn ein Politiker sagt, der Osten stehe auf der Kippe, drohen ihm Klassen-Keile, Keile der politischen Klasse - woraus man immerhin schließen könnte, dass dieser Osten ihr wichtig ist. Aber gerade so verhält es sich nicht. Die Sorge um den Osten verdeckt, dass er zum Rand- und Rechenthema abgesunken ist, ein Fall für Strukturpolitik, ein Klotz am Bein. Noch fataler: Der Osten ist in Wahrheit kein Thema mehr, das die deutsche Politik wirklich umtreibt. Die Reaktion, auf die er im Westen, aber zunehmend auch im Osten stößt, ist "achselzuckende oder vorwurfsvolle Resignation".

Das bittere Wort stammt von dem Urheber der Kipp-These, Wolfgang Thierse, im politischen Hauptberuf Bundestagspräsident. Und sie finden sich in einem Buch, dessen Hauptziel die Überwindung dieses Zustandes ist. Zu Recht: In der Tat wiegt diese Haltung schwerer als alles andere, was den Osten belastet - sinkende Wachstumsraten und hohe Arbeitslosigkeit, die extreme Abhängigkeit vom Westen, eine ungebremste Abwanderung. Denn sie hält den Osten in einer Verfassung - so argumentiert Thierse -, in der er zunehmend unfähig wird, daran zu glauben, dass er eine Perspektive hat.

Die individuellen Entscheidungen der Menschen haben den Anschluss verloren an die übergreifenden Motivationen und Visionen, mit denen sich die Wiederherstellung des bürgerlich-demokratischen Lebens in der großen Umbruchszeit verband. Es geht, so Thierse, "um ein Grundvertrauen in die Zukunft Ostdeutschlands, auf das sich persönliche Entscheidungen und Lebensplanungen stützen können". Die Abwanderung von Ost nach West ist das Symptom dafür, dass dieses Vertrauen erschüttert ist.

Der Befund ist dramatisch. Dabei ist Thierse in der Diagnose moderat. Er erkennt an, was an gewaltigen Veränderungen anzuerkennen ist. Allerdings: Die "Oberfläche, die dem Westen immer ähnlicher wird", entziehe dem Blick auch den gesellschaftlichen Wandel in seiner Tiefe und Breite. Und BMW in Leipzig und die gläserne VW-Fabrik in Dresden dürften nicht über die Begrenztheit einer Wirtschaftsförderung hinwegtäuschen; die ende oft "bei einem geförderten Hochregallager des Quelle-Versandes am Autobahnkreuz". Und von der ursprünglich angestrebten Angleichung der Lebensverhältnisse könne "keine Rede mehr sein".

Thierse konstatiert, dass die Formeln und Bilder der ersten elf Jahre verbraucht seien. Andererseits beharrt er darauf, dass der Gedanke eines langfristigen Aufholprozesses nicht zu erübrigen ist: Wer ihn in seinem Kern aufgebe, "gibt Ostdeutschland ökonomisch auf". Das Dilemma ist offensichtlich. Thierse rettet sich - und den Osten - in dem Gedanken eines "zweiten Anlaufs".

Dafür gibt sein Buch viele Anregungen. Das meiste Aufsehen - und den größten Ärger bei seinen regierenden Genossen - wird er wohl mit dem Vorschlag auslösen, dass rasch ein neuer Investitionsimpuls erfolgen müsse; insoweit müsse die Verstetigung der Förderung in Frage gestellt werden, die die ostdeutschen Regierungschefs der Regierung und ihren Kollegen im Solidarpakt II abgehandelt haben. Anderes ist in der Diskussion. Wieder anderes hat ein bisschen vom bemühten Eifer von Seminarveranstaltungen. Manches - wie die Bildung von Vereinen, die die Heimatbindung der abgewanderten Ostdeutschen bewahren sollen - trägt das Zeichen der Vergeblichkeit.

Aber seinen appellhaften Schwerpunkt hat das Buch darin, dass es die Lösung der Probleme des Ostens nachdrücklich in einer notwendigen politischen, ja, mentalen Veränderung erkennt. Thierse postuliert eine "Art gesellschaftliche Resonanz, eine Rückkoppelung", die "wieder Kräfte freisetzt, mit denen sich der inzwischen eingefahrene Motor staatlicher Förderung, die weithin ausgeschöpften Anreize politischer Steuerung noch einmal wirksam machen ließen".

Die Richt- und Eck-Punkte der Remedur, die er dem Osten zugedacht hat, stammen aus dem Wortschatz der Sozialpsychologie und Politik. Sie lauten "Identifizierung", "Selbstorganisation", demokratische "Lernprozesse". Gemeint ist ein Bewusstseinswandel: Ohne ein Ausbrechen aus Lethargie und Sprachlosigkeit ist, so Thierses Sicht auf den Osten, ein Ausweg aus dem gegenwärtigen Zustand nicht absehbar. Das macht die Sache nicht einfacher. Aber es trifft, vielleicht, den entscheidenden Punkt.

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