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Tragödie auf dem Berliner Ring. 14 Menschen kamen bei dem schweren Busunfall am 26. September 2010 ums Leben. Nach bisherigen Erkenntnissen musste der Busfahrer einem zu schnell auf die Autobahn fahrenden Pkw ausweichen.

© dpa

Von Sandra Dassler: Der lange Weg zurück

Nach dem Unfall mit 14 Toten auf der A 13 kämpft der polnische Busfahrer um seine Gesundheit

Von Sandra Dassler

Schönefeld/Stettin - Potsdam/Stettin - Einmal saß Grzegorz J. im Wartezimmer eines Arztes in Stettin, da unterhielten sich zwei Männer über den Unfall des polnischen Reisebusses am Schönefelder Kreuz. Dabei waren am 26. September vorigen Jahres 14 Menschen getötet und 35 verletzt worden – nach bisherigen Erkenntnissen war der Busfahrer einem viel zu schnell auf die Autobahn fahrenden Pkw ausgewichen und gegen einen Brückenpfeiler geprallt.

„Wahrscheinlich konnte der nicht anständig fahren“, sagte einer der Männer im Wartezimmer. Der andere nickte: „Der hätte das ganz anders machen und nicht ausweichen sollen.“ Grzegorz J. biss sich auf die Zunge. Doch als die Männer nicht aufhörten zu lästern, fragte er: „Waren Sie bei dem Unfall dabei?“ Sie verneinten. „Aber ich“, sagte Grzegorz J.

Grzegorz J. fuhr den Unglücksbus, ein großer, hagerer Mann, der gerade 40 Jahre alt geworden ist. Er hat dunkle und bisher wenig graue Haare und ein so vertrauenserweckendes Gesicht, dass man bedenkenlos in einen von ihm gefahrenen Bus steigen würde.

Nur kann Grzegorz J. nicht mehr Bus fahren, denn auch er wurde bei dem Unfall verletzt: Glassplitter waren in sein rechtes Auge eingedrungen, nach mehreren Operationen im Vivantes-Klinikum Neukölln stand fest, dass seine Hornhaut (zu) stark beschädigt wurde. „Grzegorz J. braucht eine Hornhaut-Spende“, sagt sein Anwalt Radoslaw Niecko, „das Vivantes-Klinikum wollte ihn operieren, aber seine Krankenkasse eine Operation in Deutschland nicht zahlen.“ In Polen aber hätte es mehrere Jahre gedauert, bis ein Spender gefunden worden wäre und Grzegorz J. hätte bis ins fast 600 Kilometer entfernte Katowice fahren müssen.

Nach Berlin-Neukölln zurück brauche er nur zwei Stunden, sagt er: „Und zu den Neuköllner Ärzten habe ich volles Vertrauen. Ich wurde dort nach dem Unfall kompetent und vor allem auch psychologisch sehr einfühlsam betreut. Ich habe Professor Pham und die anderen Ärzte und Schwestern sehr schätzen gelernt.“

Die polnische Krankenkasse aber ließ sich nicht erweichen. Als der Busfahrer fragte, was er machen soll, wenn die Neuköllner Klinik bei ihm anruft, weil eine Hornhautspende zur Verfügung steht, bekam er zur Antwort: „Dann legen Sie einfach den Hörer auf!“ Das wird Grzegorz J. gewiss nicht tun. Denn selbst wenn die Operation gelingt, dauert es noch Monate, bis er wieder ans Lenkrad kann. Busfahrer aber verdienen in Polen nur Geld, wenn sie fahren. Dann gibt es Übernachtungspauschalen sowie Tage- und Kilometergeld. Mit seinem Grundgehalt von 350 Euro kann Grzegorz J. seine Familie nicht ernähren. Er hat drei schulpflichtige Kinder: „Wir sparen schon, wo es geht“, erzählt er: „Weihnachten gab es diesmal nur ganz kleine Geschenke.“

Erst vor drei Jahren ist Grzegorz J. nach Westpolen gezogen. Vorher hat die Familie in seinem Geburtsort Oswiecim gelebt, in Auschwitz also, nur 300 Meter vom ehemaligen Konzentrationslager entfernt. „Ich wollte immer Kraftfahrer werden“, erzählt er: „Habe Lkw gefahren, dann Linien- und später Reisebusse.“

Nie sei ihm in den 20 Jahren als Fahrer ein Unfall passiert, weder auf dem Weg hinauf zum Vesuv oder an den engen Straßen entlang norwegischer Fjorde.

Über das Unglück am Schönefelder Kreuz redet Grzegorz J. nicht gern. Er hat an diesem furchtbaren 26. September seine eigenen Wunden zuerst gar nicht bemerkt und geholfen, die Verletzten zu bergen. Er hat die Toten gesehen und den Feuerwehrleuten die Batterien gezeigt. „Es war ein Wunder, dass der Bus nicht umkippte und Feuer fing“, sagt er: „Dann wären noch mehr gestorben.“

Die Staatsanwaltschaft Potsdam geht von keinerlei Mitschuld des Busfahrers aus, sagt ein Sprecher. Die Ermittlungen stünden unmittelbar vor dem Abschluss, aber noch sind Opfer-Ansprüche nicht geklärt, weil Versicherungen und Anwälte keine Akteneinsicht nehmen konnten.

Auch nicht Radoslaw Niecko, der in der Potsdamer Rechtsanwaltskanzlei Goldenstein & Partner auf deutsch-polnische Fragen spezialisiert ist. „Aber dem Fahrer musste geholfen werden“, sagt er: „Die haben damals doch alle versprochen, den Opfern beizustehen – Polens Ministerpräsident Tusk genau wie Brandenburgs Regierungschef Platzeck.“

Am gestrigen Dienstag kam endlich die erlösende Nachricht aus Potsdam: „Die Landesregierung hat gemeinsam mit Vivantes und der polnischen Botschaft eine Lösung gefunden“, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Gerlinde Krahnert dem Tagesspiegel: „Der Fahrer wird in Neukölln operiert.“

Grzegorz J. hofft, dass er danach wieder ans Lenkrad zurückkehren kann. Familie und Freunde hätten ihm sehr geholfen, sagt er. „Und dass selbst die Angehörigen der Todesopfer mir schrieben, sie würden mir keine Vorwürfe machen.“

Dass die Bilder von dem schrecklichen Unfall jede Nacht wiederkehren, kann Grzegorz J. trotzdem nicht verhindern. Dann wiederhole er immer die selben beiden Sätze: „Ich habe keine Schuld“ und „Das Auge wird wieder gut“. Nach außen lasse er sich nichts anmerken, sagt er: „Ich muss positiv denken. Aber hier drinnen“ – er legt eine Hand auf sein Herz – „hier drinnen sieht es anders aus“.

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