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Stephan Hilsberg: StasiBeauftragter wird noch mindestens 30 Jahre gebraucht.

© promo

ZUR PERSON: „Herkunft alleine ist überhaupt keine Zukunft“

Jugendliche zweifeln an Antworten der Eltern oder Lehrer. Ich weiß nicht, was ostdeutsche Tugenden sind Der einstige DDR-Bürgerrechtler und SPD-Bundestagsabgeordnete Stephan Hilsberg über die Notwendigkeit für einen Stasi-Beauftragten, mangelnde Geschichtsaufarbeitung in Brandenburg und die Frage, was eigentlich typisch ostdeutsch sein soll

Herr Hilsberg, 20 Jahre nach der Wende bekommt nun auch das Land Brandenburg einen Landesbeauftragten für die Opfer des DDR-Regimes – sind Sie zufrieden?

Ich begrüße diesen Schritt sehr. Ich glaube, dass die Einrichtung einer solchen Stelle nach 20 Jahren ein richtiger Schritt ist, denn die letzten Jahre haben das Defizit einer mangelnden Betreuung der SED-Opfer, die es ja auch in diesem Bundesland gibt, deutlich gemacht.

Ursprünglich war in Brandenburg geplant, auch die Opfer der NS-Diktatur unter die Obhut des Landesbeauftragten zu stellen. Nach einer Expertenanhörung, zu der auch die Opferverbände geladen waren, hat man sich nach massiver Kritik entschieden, die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur auszuklammern. Ist das ein für Sie nachvollziehbarer Schritt?

Ich habe es als ausgesprochen mutig empfunden, in Brandenburg einen Landesbeauftragten zu schaffen, der für beide Opfergruppen zuständig ist. Dass es nun nicht so kommt, bedaure ich, es wäre eine echte Neuerung aus Brandenburg gewesen. Leider scheinen mir die Ursachen dieses Scheiterns stärker bei den Opfergruppen selbst zu liegen als in der Brandenburger Landespolitik. Gerade die Opfergruppen betonen immer wieder das Trennende stärker als das Gemeinsame und das zeigt einen spezifischen Zustand in unserer Aufarbeitungsdebatte: Die Opfer werden mit dem System identifiziert in dem die Täter gesteckt haben.

Gerade bei den Opfern der NS-Diktatur scheint die Angst vor einer Nivellierung, einer Gleichsetzung der Diktaturen, besonders groß zu sein.

Man kann die Opfergruppen nicht alle über einen Kamm scheren, die Widerstände sind mal stärker mal schwächer. Fakt ist aber, dass es bisher nicht gelungen ist, Brücken zwischen den Opfergruppen selbst zu bauen. Und das hängt nicht nur mit den Opfergruppen selbst zusammen, sondern das ist eine spezifische Sicht auf die Diktaturgeschichte, die wir hier in Deutschland haben: Hier wird das Trennende dieser Diktaturen viel stärker betont und es gibt geradezu Angst, auf Wesensgleichheit hinzuweisen.

Worin besteht die Wesensgleichheit?

In einem Allmachtsanspruch, in der bewussten Inkaufnahme staatlicher Gewalt zur Durchsetzung eigener politischer Ziele, in der bewussten Inkaufnahme von Unrecht, ja geradezu in der Instrumentalisierung staatlichen Unrechts, um die eigene Macht zu zementieren. Dies ist ein Systemmerkmal von totalitären Systemen – und sowohl die NS- als auch die SED-Herrschaft waren beides totalitäre Diktaturen, die der Meinung waren, dass sie legitimiert sind, das, was ihnen nicht gefällt, zu unterdrücken, ins Gefängnis zu werfen oder umzubringen. Und dieser Gegensatz zwischen der Ablehnung demokratischer Strukturen und einem Rechtsstaat ist wesentlich größer als die Unterschiede zwischen beiden Diktaturen.

Wo liegen aber zwischen den Opfern beider Systeme die Gemeinsamkeiten – allein im „Opfergewesensein“?

In beiden Fällen mussten Menschen unschuldig leiden und jeder einzelne Mensch, der dadurch zu Tode kommt, ist einer zu viel; egal ob es ein Sozialdemokrat oder ein Kommunist war, ob das ein Schwuler oder eine Lesbe war, ob das ein Zigeuner war, ob das ein sogenannter Ausbeuter war oder ein Unternehmer: jedes Opfer ist ein Zeichen dafür, dass das System an sich nicht in Ordnung ist.

Was kann denn ein Stasi-Beauftragter nach 20 Jahren überhaupt noch leisten – oder: Was muss er aus Ihrer Sicht leisten?

Es geht zum Teil um ganz praktische Fragen. Sehen Sie: Wir hatten in dieser Legislaturperiode im Bundestag die Verabschiedung der Opferpension. Es gibt auch in Brandenburg mehr als 20 000 Antragsberechtigte – wer hilft denen eigentlich, sich mit der Bürokratie auseinanderzusetzen? Wer hilft den nach dem Zweiten Weltkrieg internierten Frauen, bei der Häftlingshilfestiftung Anträge zu stellen, wer hilft Leuten, die unter posttraumatischen Gesundheitsschäden leiden, die Anträge bei den Gesundheitsbehörden durchzufechten, was ohnehin ein sehr schwieriger Vorgang ist? Und dann weiß ich aus der Praxis des Berliner Landesbeauftragten, der ja bisher die Betreuung der brandenburgischen Opfer mitübernommen hatte, dass seine Sprechstunden voll sind und dass nach wie vor Bedarf nach Beratung besteht.

Wie lange, glauben Sie, brauchen wir noch solche Landesbeauftragten?

Ich schätze, dass sie solange noch nötig sein werden, wie Opfer noch leben – also noch mindestens 30 Jahre. Es gibt ja heute noch Opfer der psychischen Zersetzungsmethoden der DDR-Staatssicherheit, die noch nicht richtig im Blickfeld sind.

Etwa?

Wenn Leute von ihrem Ehepartner bespitzelt worden sind, wenn ganze Gruppen zerstört wurden, wenn Freundeskreise zersetzt wurden, wenn das Selbstvertrauen Einzelner in einer Art und Weise zerstört wurde, dass es bis heute nachwirkt – das sind Leute, die bis heute unter psychischen und physiologischen Krankheiten leiden, die noch unter Angstzuständen leiden, denen ein Teil der Lebensgrundlage bis heute zerstört ist oder bei denen Spätfolgen erst heute auftreten.

Sie haben selbst unter dem DDR-System gelitten, sie waren nach der Wende Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestages zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ – wie, glauben Sie, wirkt es auf einstige Opfer des DDR-Regimes, wenn in Brandenburgs Polizei noch heute hunderte ehemals hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes tätig sind? Darunter sind immerhin auch frühere Angehörige der Abteilung XX des MfS, die für Verfolgung und Zersetzung politisch Andersdenkender zuständig war.

Das ist für viele ehemalige Opfer nicht nur schlicht unverständlich, sondern es führt für sie zu Unsicherheiten und tiefen Irritationen, manche haben das Gefühl, dass der Verfolgungsdruck gar nicht aufgehört hat. Das heißt, dass sie sich erneut verletzt und ausgegrenzt fühlen.

Ist es das Gefühl, wieder verloren zu haben?

Ja. Es kommt das Gefühl hoch bei vielen, dass der Sieg über das System nicht dauerhaft war, dass es einen wieder einholt. Es gibt nicht wenige unter den Opfern, die eine jahrelange Psychoanalyse machen müssen, um überhaupt einigermaßen mit den Verhältnissen klarkommen zu können. Denn es ist eben auch so, dass all das, was den Menschen passiert ist, was ihnen angetan wurde, eine Anfechtung an die eigene Persönlichkeit ist beziehungsweise so erlebt wird.

Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm prophezeit den neuen Ländern, aber besonders Brandenburg, eine Art 1968 – nicht mit Studentenrevolten wie in Westdeutschland, aber mit ähnlichen Fragestellungen der Jugend: Was habt ihr nach dem Ende der Diktatur gemacht, wie seit ihr mit Tätern und Opfern umgegangen, warum habt ihr was wie gemacht?

Ich stoße selbst auch immer wieder auf Jugendliche, die zumindest mir gegenüber deutlich machen, dass sie tiefe Zweifel an den Antworten ihrer Eltern oder Lehrer haben, die ihnen die DDR zu rosa darstellen. Sie stoßen sich immer wieder an den sehr unterschiedlichen Beurteilungen der DDR und fragen dann, wie es sein kann, dass die einen die DDR als Unrechtsstaat bezeichnen und die anderen die ganze Zeit darüber reden, wie schön es war und wie wohl sie sich gefühlt haben. Die Fragen dieser Jugendlichen-Generation sind nicht beantwortet. Und ich habe nicht den Eindruck, dass sie sich mit diesen Widersprüchen zufriedengeben. Sie werden weiter Fragen stellen. Nur: Im Gegensatz zu Schönbohm bin ich mir nicht sicher, ob sich diese Fragen zum Schluss auch durchsetzen werden und wir so etwas wie eine 68er-Entwicklung bekommen werden.

Trotz der fragenden Jugend so pessimistisch?

Es gibt ja auch einen anderen Trend, den es seinerzeit so in der BRD nicht gegeben hat: Eine zunehmende Verharmlosung und Verunklarung der Fakten über die DDR. Die wenigsten Jugendlichen wissen heute noch, dass der Bankrott durch die SED-Diktatur selbst verschuldet war, wie viele Flüchtlinge rübergegangen sind, was der Hintergrund der Mauer war und so weiter. Und auch die nostalgischen Stimmungen sind sehr, sehr stark. Hinzu kommt, dass wir auch eine Nachwendegeschichte haben, wo gerade in Brandenburg sehr wichtige Politiker sich bemüht haben, gerade die Aufarbeitung der Staatssicherheit zu verhindern und stattdessen lieber Ost-West-Ressentiments geschürt haben – um sich dann dahinter verstecken zu können.

Sie sprechen vom Ex-Ministerpräsidenten und ihrem SPD-Genossen Manfred Stolpe, der unter dem Verdacht steht, als Inoffizieller Mitarbeiter „IM Sekretär“ für die Staatssicherheit gearbeitet zu haben.

Ja. Das was ich eben beschrieben habe ist bei Stolpe ganz stark der Fall.

Aber Stolpe war es ja nicht allein.

Nein, das hat er nicht allein gemacht. Ich kann es ja auch verstehen, dass eine Partei sich bemüht, ihren Frontmann zu schützen und dieser Apparat an Argumentationen ist vom gesamten Land mitübernommen worden.

Geschadet hat es Ihrer Partei, der SPD, jedenfalls nicht.

Nein. Es hat ihr zunächst sehr, sehr viel Popularität eingebracht. Heute aber erfahren wir, dass diese Art der Stärkung insgesamt im Land Brandenburg zu einer Haltung geführt hat, die natürlich eine realistische Wahrnahme der SED-Diktatur aktiv verhindert hat.

Stolpe und auch die nach ihrem Tode noch immer unerhört populäre Regine Hildebrandt sind damals durch Brandenburg getourt und haben den Menschen erklärt, Stolpe verteidige seine DDR-Biografie stellvertretend für alle Brandenburger oder gar alle Ostdeutschen. Sehen Sie ähnliche Argumentationen heute auch noch – etwa bei der Debatte darum, ob die DDR nun ein Unrechtsstaat war oder nicht, oder um Ex-MfS-ler im öffentlichen Dienst?

Die Reflexe von damals sehe ich so nicht mehr – aber die Spätfolgen der Debatte aus den 90ern: Viele wollen mit dem Thema nicht mehr behelligt werden.

Auch in der Politik?

In der Politik stelle ich eine andere Tendenz fest, denn es ist ja durchaus bemerkenswert, dass wir, was die Konzeption des Landesbeauftragten in Brandenburg betrifft, plötzlich fast eine echte Innovation aus Brandenburg gehabt hätten. Das sehe ich dann doch auch als ermutigendes Zeichen dafür, dass sich die Diskussion nicht verhindern lässt, dass sie sich nicht unter Ost-West-Ressentiments verbergen lässt, dass sie stärker ist, dass sie an die Oberfläche will. Insofern empfinde ich den Bedarf an Aufklärung doch noch als viel stärker als die Kraft der Verdrängung. Und das wird sich meines Erachtens dann auch in Brandenburg durchsetzen, das ist eine Frage der Zeit.

Platzeck hat Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich in einem Interview attestiert, sie stehe für typisch ostdeutsche Eigenschaften. Haben Sie eine Ahnung, was er damit meint?

Nein, ich weiß nicht, was ostdeutsche Tugenden sind. Ich stelle fest, dass man in Ostdeutschland ein Stück weit auf andere Mentalitäten stößt als in Westdeutschland – es gibt gewisse Andersartigkeiten. Aber die Gesellschaft selbst ist doch so differenziert und so heterogen, dass man sich davor hüten sollte, Ostdeutsche nur mit ihrer Herkunft zu identifizieren.

Empfinden Sie sich als Ostdeutscher?

Ja, ich empfinde mich auch als Ostdeutscher, ich habe eine starke ostdeutsche Identität, ich bin gelernter DDR-Bürger und ich bin auch stolz darauf, dieses System mit überwunden zu haben. Ich empfinde aber gleichzeitig die Belastungen und Traumata, die in dieser Zeit entstanden sind. Das mögen viele andere nicht so haben, es gibt viele Menschen in der ehemaligen DDR, die sich mit Teilaspekten des Systems durchaus identifizieren, die heute traurig darüber sind, dass dies nicht bewahrt wurde. Ich identifiziere mich aber sehr viel stärker mit der westdeutschen und mit den westeuropäischen Demokratien, weil ich hier einen offeneren Charakter, ein mutiges und selbstbewussteres Herangehen an Probleme der heutigen Zeit beobachte.

Platzeck sagt, die Ostdeutschen hätten die Lektionen die auf den Westen zukommen, schon gelernt durch die Transformationsprozesse nach der Wende.

Ich kann überhaupt nicht sehen, dass man an irgendetwas festmachen könnte, dass die Ostdeutschen bessere Menschen sind oder dass hier die Lektionen dafür zu lernen sind, wie wir mit unseren Zukunftsproblemen umgehen sollten. Diese Art von Betrachtungsweisen sollte man abschütteln. Für uns in Ost und West sind die Herausforderungen in allen aktuellen Fragen am Ende gleich. Da spielt es überhaupt keine Rolle, ob ich aus Westdeutschland komme oder aus Ostdeutschland. Das ist weder Vorteil noch Nachteil. 

Aber Ihr Parteigenosse Platzeck hat eben diesen Ansatz, er sagt explizit, die Ostdeutschen seien für die Zukunft besser gerüstet.

Ja, aber genau diesen Satz habe ich nie verstanden und ich kann ihn auch überhaupt nicht nachvollziehen. Ich stoße häufig darauf, dass gerade in strukturschwachen Regionen Innovationen von außen kommen – ob nun in Vorpommern, wo sie aus Polen kommen, ob sie aus Westdeutschland kommen oder von griechischen Unternehmen in der Mark oder in weiten Teilen Brandenburgs eben aus Berlin. Genau aus diesem Austausch erwächst doch Agilität und Innovation. Herkunft alleine ist überhaupt keine Zukunft. Unsere Probleme für die Zukunft werden wir nicht deshalb lösen, weil wir aus Ostdeutschland kommen.

Das Gespräch führte Peter Tiede

Stephan Hilsberg wurde 1956 im brandenburgischen Müncheberg geboren, arbeitete als Programmierer am Biophysikalischen Institut der Charité und war ab Mitte/Ende der 80er Jahre in kirchlichen Friedenskreisen aktiv. Er war Gründungsmitglied und 1. Sprecher der SDP, dem Vorgänger der SPD in der DDR. Hilsberg, verheiratet, vier Kinder, war 1990 Mitglied der ersten frei gewählten DDR-Volkskammer und sitzt seit 1990 für den Süden Brandenburgs im Bundestag. Von 2000 bis 2002 war er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesbauministerium. Hilsberg galt als Kritiker des ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD) und eines undifferenzierten Umgangs mit der DDR- Geschichte – und vertrat damit in der Landespartei eine Minderheitsposition. Für die Bundestagswahl im September stellte ihn die SPD nicht mehr auf.

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