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Sport: Das Fräuleinwunder aus dem Potsdamer Thälmann-Stadion

Die zweifache Silbermedaillengewinnerin von Melbourne Christa Fischer-Stubnick wird heute 70

Die zweifache Silbermedaillengewinnerin von Melbourne Christa Fischer-Stubnick wird heute 70 Von Hans Groschupp Wir wissen es nicht erst seit heute: Die meisten berühmten Sportler der Sportstadt Potsdam wurden nicht in Potsdam geboren. Sie kamen und kommen in der Regel aus dem Thüringischen, dem Anhaltinischen oder aus irgendeinem tiefen Winkel der Mark. Einer, nein, der ersten großen Berühmtheit hätte es zugestanden, in der einstigen Preußenmetropole geboren worden zu sein. Denn was kaum einer weiß: In den Adern der einst zweitschnellsten Frau der Welt pulsiert blaues Blut. Ihr Vater, der Krankenpfleger Franz Seliger, war der anerkannte Sohn des Barons von Puttkamer. Zwischen Magdeburg und Stendal, in der Altmark. liegt die 13 000-Einwpohner-Stadt Gardelegen, dort steht noch heute das Haus der Familie Seliger. Sieben Kinder zieht Franz Seliger groß; vier Töchter und drei Söhne. Er ist Alleinerzieher. Die Mutter seiner Kinder war schon 1935 verstorben. Zuvor, am 12. Dezember 1933, hatte Tochter Christa das Licht der Welt erblickt. Eine sportbesessene Familie In ihrer Familie wird geturnt, geschwommen und Handball gespielt. Christa treibt es auf die Spitze. Sie will auch noch rennen, als sie in die Lehre bei der Stadtverwaltung kommt – und gewinnt mal eben die Ausscheidung für die Landesmeisterschaft. 1950 will sie in Berlin-Grünau an den DDR-Waldlaufmeisterschaften teilnehmen. Dafür braucht Christa den Stempel des Arztes im Sportausweis. Direkt vor dem Start in Grünau werden alle Teilnehmer untersucht. Der Arzt attestiert Christa Seliger einen Herzfehler. Mit dem Sport soll es nun vorbei sein. Christa weint. Der mitgereiste Papa streicht ihr über den Kopf. Er kann die Tränen auch nicht halten. Als beider getrocknet sind, beschließen Vater und Tochter, sich den Lauf der jugendlichen Weibsen anzuschauen. Christa muss einmal und verschwindet. Sie kommt nicht wieder. Besorgt schaut sich der Vater um. Da sieht er sie: Sie führt das Feld der weiblichen Jugend an und wird Meisterin. Für den Moment der Freude vergisst der Vater zu schimpfen. Lange Strecken zu laufen, verbietet er ihr aber. Christa hält sich dran und tritt etwas kürzer. Nach der Lehre arbeitet sie bei der Reichsbahn. In der SV Lokomotive Stendal probiert sich die hübsche Schwarzhaarige im Sprinten. Ein sensationell kurzer Aufstieg beginnt. Bei den DDR-Meisterschaften 1952 in Jena läuft die 18-jährige Christa 12,2 s über die 100 m. Doppelmeister bei den Männern wird der Potsdamer Polizeisportler Fritz Lacina. Die Sprintstaffel gewinnen die Potsdamer aus dem neu erbauten Ernst-Thälmann-Stadion auch noch. Gottfried Springer und Herbert Büsser flirten mit Christa und bringen ihren Trainer Max Schommler mit. Wenige Wochen später ist es beschlossen. Christa wird Angehörige der Deutschen Volkspolizei und zieht geradewegs ins Thälmann-Stadion. Die Ravensberg-Methode Das Training hier ist härter als erwartet. Schommler hat eine besondere Methodik entwickelt. Im Jahresaufbautraining laufen alle über die Lange Brücke den Brauhausberg hinauf, um in ein flaches Areal in der damals noch unbebauten Waldstadt II zu gelangen. Nach diesem lockeren Waldlauf über acht Kilometer beginnt für alle Frauen und Männer ein Sprintintervalltraining auf Waldboden. Schommler und Paul Prietzel sind inzwischen mit der Straßenbahn bis zur Haltestelle Jagenstein– heute: F.-Wolf-Straße – gefahren und empfangen ihre Schüler. Nach dem Tempotraining geht es im Laufschritt zurück. Im kalten Winter 1952/53 fährt die ganze Truppe nach Oberhof ins Trainingslager. Der Trainer fegt den Schnee von den festgefrorenen Waldhängen, welche seine Schützlinge nun in Spikes hoch sprinten dürfen. Bereits im folgenden Sommer läuft Christa Seliger Deutsche Rekorde über 100 (11,7 s) und 200 m (23,9s). Natürlich wird sie auch zweifache DDR-Meisterin. Bei den Weltfestspielen in Bukarest schlägt sie die sowjetischen Sprinterinnen. 1953 ist keine Frau der Welt über 200 m schneller als Christa. Es geht rasant weiter. Die Rekorde werden 1954 weiter verbessert. Über 220 Yards stellt sie den Weltrekord ein. Insgesamt schafft Christa in ihrer Laufbahn fünf Weltrekorde, sechs Deutsche Rekorde und einen Europarekord. Sie wird neunmal DDR-Meisterin. Zweimal Silber in Melbourne Im Zenit ihres Könnens ist sie bei den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne, wo sie über 100 und 200 m jeweils hinter der Australierin Betty Cuthbert Silber gewinnt. Damit ist Christa Stubnick – sie hatte zwei Jahre zuvor den Schwergewichtsboxer Erich Stubnick geheiratet – die erste Sportlerin der DDR, die zu olympischen Ehren kam. Noch heute betont sie, dass sie ihre Erfolge hauptsächlich ihrem Trainer verdankt. Max Schommler trainiert Kurz- und Langsprinter, Mittel- und Langstreckenläufer. Sein „Marathoner“ Kurt Hartung erreicht ebenfalls die Olympiateilnahme in Melbourne. Als Christa Stubnick ihre größten Erfolge feiert, ist sie aber schon nicht mehr Potsdamerin, sondern Berlinerin. Die Sportvereinigung „Dynamo“, der sie angehört, war aus der Sportvereinigung der Deutschen Volkspolizei ( SV DVP) hervorgegangen. Im Oktober 1954 werden in der DDR die Sportklubs gegründet. Die Schommler- Elite zieht nach Berlin um; der SC Dynamo Berlin wird gegründet. Der lange Abschied In der Folgezeit hält Stubnicks Erfolgsserie nicht an. Ihre Achillessehne ist nicht mehr von bester Konsistenz. Über 100 m reicht es bei den Europameisterschaften 1958 in Stockholm noch einmal knapp für Bronze. Über 200 m verletzt sich die Läuferin. Erst Mitte 1960 hat Christa Stubnick ihre Verletzung auskuriert. Den Sprung auf den Olympiazug schafft sie nicht mehr. Max Schommler hat ihre Sprintausdauer verbessert. Über 400 m erreicht die Athletin hervorragende 54,7 s. Aber diese Strecke war zugunsten der 800 m aus dem Olympischen Programm genommen worden. Ende 1961 hängt Christa ihre Spikes an den Nagel. Sie bleibt bei der Polizei. Die Ehe mit Boxer Erich indes hält nicht, 1969 ehelicht sie Gerhard Fischer aus Magdeburg. Mit dem Heizungsinstallationsmeister ist Christa bis heute glücklich verheiratet. Über das Interesse der PNN an ihrer Person ist Christa Fischer heute erstaunt. Sie verfolgt nur noch selten die Leichtathletik von heute. „Es ist nicht mehr der Sport, den ich liebte. Es ist alles nur noch eine Frage des Geldes und des Sich-Produzierens, ganz zu schweigen vom Doping.“ Die Jahre in Potsdam, meint sie heute, seien ihre schönsten gewesen. Heute feiert sie ihren 70. Geburtstag.

Hans Groschupp

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