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Landeshauptstadt: Und in der Hand rote Nelken

Zeitzeugen auf dem Bassinplatz, ein Rundgang über den Sowjetischen Friedhof an der Michendorfer Chaussee, offizielle Trauer vor leeren Stühlen: Wie in Potsdam zum 70. Jahrestag an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert wurde

Von Matthias Matern

Etwas verloren steht Hannelore Fuhrmann auf dem schmalen Kiesweg neben einer der beiden bronzenen Flammenschalen, in denen an diesem Tag wieder ein Feuer brennt. Es ist der 70. Jahrestag der Befreiung. Am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr trat die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Kraft, war der Zweite Weltkrieg von einer Sekunde auf die andere Geschichte. Immer wieder dreht sich Hannelore Fuhrmann um und sucht nach ihrem Ehemann. Wie so viele andere vorwiegend ältere Frauen und Männer ist das Paar am Vormittag mit Nelken in der Hand zum Russischen Ehrenfriedhof auf dem Potsdamer Bassinplatz gezogen – auch um Danke zu sagen.

Gerade hat die 81-jährige Potsdamerin ihre Blumen am Sockel des Ehrenmals niedergelegt und jetzt ist ihr Mann Günther verschwunden. „Wir kommen eigentlich jedes Jahr hierher. Vielleicht hat er noch einen Bekannten getroffen“, sagt Hannelore Fuhrmann. Eine gewisse Nervosität kann sie trotzdem nicht verbergen. Die vielen Reden, Erinnerungen und Gedichte anlässlich des Gedenktags haben Hannelore und Günther Fuhrmann andächtig in der zweiten Reihe vor dem grünen Zaun des Ehrenfriedhofs verfolgt. Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) erinnerte in seiner Ansprache auch daran, dass damals nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Indoktrinierung nicht alle Deutschen und wohl auch Potsdamer den 8. Mai 1945 als Befreiung, sondern vielmehr als Niederlage empfunden haben. Gleichzeitig aber sei der Tag auch verbunden gewesen mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Hannelore Fuhrmann kann sich noch sehr gut an das Kriegsende erinnern. Damals war sie zwölf Jahre alt, ihr Elternhaus lag nach einem Bombentreffer in Schutt und Asche. Für sie und ihre Familie war der 8. Mai 1945 damit tatsächlich ein Tag der Befreiung – eine Befreiung vom Schrecken des Krieges. „Meine Mutter und ich waren gerade im Ostseebad Boltenhagen angekommen. Mit dem Zug waren wir aus Stettin geflüchtet. Mein Vater sollte nachkommen“, erinnert sich die geborene Stettinerin. Die Nachricht von der Kapitulation erreichte sie und ihre Mutter mit einiger Verzögerung. „Das Erste, was meine Mutter damals sagte, war: ,Bloß gut, dass jetzt alles zu Ende ist’“, erinnert sie sich, sichtlich gerührt. Dann zeigt sie schnell Richtung Ausgang. „Da ist er ja.“

Günther Fuhrmann ist inzwischen gekommen und stellt sich zu seiner Frau. Der 82-Jährige schaltet sich gleich ein ins Gespräch. Den 8. Mai 1945 erlebte er in in seinem Heimatdorf, in Neuhaus/Elbe, südlich von Schwerin. Befreiung? „Nein, wir waren ja unter Hitler erzogen worden. Wir haben das damals als Niederlage empfunden“, erzählt er freimütig. Der Sinneswandel habe dann aber recht bald eingesetzt. „Eigentlich mit Eintreffen der Soldaten der Roten Armee. Die wurden uns ja immer als Verbrecher dargestellt, aber das waren ja ganz normale Menschen.“ Einmal habe er mit Freunden zugesehen, wie einige Soldaten ein Schwein schlachteten. Ohne gefragt zu werden, hätten die Soldaten ihnen gleich ein paar Stücke Fleisch in eine Zeitung eingewickelt, erinnert sich Günther Fuhrmann. „Das war zwar die Prawda, aber das machte ja nichts“, fügt er hinzu und muss schmunzeln. An die Amerikaner, die als Erstes in Neuhaus eintrafen, hat Fuhrmann weniger gute Erinnerungen. „Die haben als Erstes alle zusammengetrieben. Männer und Frauen getrennt. Es herrschte die Angst, dass alle erschossen werden. Die Mutter meines ersten Lehrers wurde in der Schule vergewaltigt.“

Seit 1953 leben die Fuhrmanns in Potsdam. Bisher hätten sie noch keinen Tag der Befreiung verpasst. Was Deutschland aus den Schrecken des Zweiten Weltkriegs gelernt hat? Da sind sich beide sofort einig. „Nicht viel, wenn man sich die Politik ansieht“, sagt Günther Fuhrmann: „Warum nimmt die Bundesregierung nicht offiziell an der Weltkriegsgedenkfeier in Moskau teil? Oder ist jetzt Putin allein an allem schuld?“

Inzwischen hat sich der Platz um das Ehrenmal auf den Bassinplatz sichtlich geleert. Auch Hannelore Fuhrmann hakt sich bei ihrem Ehemann ein. Im nächsten Jahr werden sie wohl wieder hier sein.

Der unbekannte Sowjetische Friedhof

Etwa 50 Menschen sind am Nachmittag dieses 8. Mai auf den Sowjetischen Friedhof an der Michendorfer Chaussee gekommen. Eingeladen hat der Wilhelmshorster Ortsverein. Der Friedhof im Waldgebiet der Revierförsterei Sternschanze wurde 1946 angelegt. Vielen ist er kaum bekannt. So treffen auch die Besucher auf Unerwartetes. Von den mehr als 5200 Grabstätten beherbergen nur knapp die Hälfte Kriegsgefallene aus Potsdam und Umgebung, die hierher umgebettet wurden. Bis Mitte der 1980er-Jahre wurden aber mehr als 2800 Nachkriegstote beigesetzt, Offiziere und Soldaten der Garnison der sowjetischen Streitkräfte, aber auch deren Angehörige sowie Zivilangestellte. „Die letzte Beisetzung fand 1985 statt“, erzählt der Leiter der Potsdamer Friedhofsverwaltung, Günter Butzmann, der im selben Jahr sein Amt antrat. „Es handelte sich um ein Kind.“

Nicht das Kriegsende am 8. Mai 1945 entscheidet darüber, welche Grabstätte als Kriegs- und welche als Garnisongrab behandelt wird. Um etwa auch jene zu berücksichtigen, die lange in Kriegsgefangenschaft waren, sei als Zäsur der 31. März 1952 festgelegt worden. So gliedert sich der hiesige Friedhof in zwei Teile: Wer ihn von der Michendorfer Chaussee aus betritt, stößt auf die Kriegsgräber. Hinter einem Zaun, der das Wild abhalten soll, liegen die Gräber der später Verstorbenen. Konsequent wurde diese Ordnung von der sowjetischen Kommandantur nicht eingehalten: So finden sich mitten unter den Kriegsgräbern auch die Ruhestätten von Kleinstkindern. Auf einem Grabstein lässt sich in kyrillischer Schrift nachlesen, dass Jewgenji von 1971 an nur zwei Jahre gelebt hat. Davor liegt ein frisches Bündel roter Tulpen, daneben ein kleines Fläschchen Jägermeister und ein ausgepackter Schokoriegel.

Günter Butzmann erzählt, nach russischer Sitte sei die ewige, individuelle Ruhestätte wichtig – und nicht so sehr, dass die Grabstätte penibel sauber sei. „Einmal oder zweimal im Jahr kommen die Angehörigen. Manchmal bringen sie eine Picknickdecke mit, eine Flasche Wodka und Speck, und legen auf den Grabstein das Lieblingsspielzeug des Kindes oder kleine Steine.“ Zwischen den vielen Gedenkkissen aus Beton finden sich vereinzelt Umzäunungen. Eine davon beherbergt 16 einzelne Gräber, die auf einen Flugzeugabsturz im Jahr 1951 verweisen, bei dem die komplette Besatzung ums Leben kam. Allerdings sei es nicht nur in Fällen wie diesem schwierig, die Hintergründe der Todesfälle zu rekonstruieren, erzählt der Potsdamer Friedhofschef. Liegen ihm doch nur die Sterberegister vor. Andere Friedhofsdokumente vermutet er im Moskauer Militärarchiv. „Wichtiger ist die Erhaltung der Gräber“, sagt er. „Das ist aber schwierig wegen der Größe des Friedhofs und der geringen finanziellen Zuwendungen.“ Pro Kriegsgrab bekäme er jährlich einen Zuschuss von 24 Euro. „Das ist gar nichts.“

Gedenken und Trauer – offiziell

Die brandenburgische Landesregierung und die Stadt Potsdam veranstalten am Abend eine offizielle Gedenk- und Trauerfeier in der Schinkelhalle in der Schiffbauergasse. Viele Politiker sind gekommen, auch den ehemaligen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD) kann man im Publikum sitzen sehen. Begleitet wird die Veranstaltung von einem fünfköpfigen Ensemble der Kammerakademie Potsdam, sie spielen Stücke eines ehemaligen KZ-Häftlings.

Oberbürgermeister Jakobs versetzt sich in seiner Rede in die Lage der Potsdamer am Ende des Krieges. Man könne sich kaum vorstellen, wie es ihnen erging. Sie fühlten sich als Verlierer und hätten kaum Zeit gehabt Luft zu holen. Schon nach zehn Tagen marschierte die Rote Armee ein.

Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) betont: „Unter die Nazidiktatur kann kein Schlussstrich gezogen werden. Der Einsatz für Frieden und gegen Fremdenfeindlichkeit wird immer andauern und ist eine tägliche Aufgabe.“ Er ruft insbesondere die Brandenburger auf, diese Verantwortung wahrzunehmen. Um daran zu erinnern, seien Gedenktage wie der 8. Mai hilfreich, dessen gesetzliche Verankerung in Brandenburg der Landtag gerade beschlossen habe.

Im Mittelpunkt der Veranstaltung aber steht die Rede Richard von Weizsäckers vor dem Bundestag, die 1985 zu einem Bewusstseinswandel in ganz Deutschland geführt habe, den 8. Mai als Tag der Befreiung anzuerkennen. Die Worte des verstorbenen von Weizsäcker, so Woidke, seien aktueller als jemals zuvor.

Schade ist, dass kaum jemand diese Worte hört. Gestuhlt ist für mehr als einhundert Leute, zwischen einer Handvoll Zeitzeugen und Verantwortlichen sind aber noch jede Menge Plätze frei. Was dem Abend vor allem fehlt, ist junges Publikum.

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