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„Strafgefangener 817 meldet sich.“ Christian Wendland vor dem Wohnhaus seiner Eltern in Potsdam, in dem er als Student ein Zimmer bewohnte und in dem die Stasi seinen Brief fand.

© Andreas Klaer

Landeshauptstadt: Zwangsarbeit im Maschinen-Museum

Wie es dem Potsdamer Christian Wendland als politischem Häftling in der sozialistischen Produktion erging

Schon Tage vorher suchten sie nach ihm. Doch Christian Wendland war mit einem Studienfreund im Urlaub an der Ostsee. Der Kumpel aus Berlin setzte den 23-Jährigen vor dem elterlichen Haus in Potsdam ab, in dem der Student ein separates Zimmer bewohnte. „Die haben das ganze Haus durchsucht“, empfing ihn seine Mutter. „Mein Zimmer sah aus wie nach einem Bombenangriff“, erinnert sich der 75-Jährige, die Sachen waren aus den Schränken gerissen und durchwühlt worden. Christian Wendland hatte die Staatssicherheit der DDR auf sich aufmerksam gemacht, weil „ich in der Studentengemeinde ein bisschen zu viel habe gucken lassen“, wie er sagt. Christian Wendland ist einer, der kein Blatt vor den Mund nimmt, der sagt, was Sache ist. Klar, dass er in der Republik der Gleichgeschalteten schnell anecken würde. Aber richtig reingeritten hat ihn ein Brief, den er geschrieben, aber gar nicht abgeschickt hat, den die Stasi-Leute jedoch in seinem Zimmer fanden. Dieser Brief war, wie Wendland schelmisch lächelnd sagt, „einigermaßen inhaltsreich“.

Es war ein nicht abgeschickter Leserbrief, der Christian Wendland letztlich für zwei Jahre ins Gefängnis bringen sollte. Die Westberliner Funkuhr, ein Fernsehmagazin, hatte einen Text über die Berliner Garnisonkirche mit einem Foto der Potsdamer Garnisonkirche bebildert. Diesen Fehler nahm der junge Wendland zum Anlass, nicht mit den Funkuhr-Redakteuren, sehr wohl aber mit den DDR-Städteplanern hart ins Gericht zu gehen: „Ich habe meinen ganzen Weltschmerz reinformuliert.“ In dem Brief kritisierte er die eineinhalb Kilometer Barockfassaden, die in Potsdam bereits für den Umbau zur sozialistischen Stadt abgerissen worden waren. Den Verlust des baulichen Erbes nannte Wendland „ein nationales Unglück“, dass auch die Westdeutschen nicht gleichgültig lassen dürfe, auch den Hamburgern würde in Potsdam „etwas vernichtet, was unwiederbringlich verloren ist“.

Christian Wendland weiß das Datum genau: Am 28. September 1961 wird er verhaftet; bis zum 10. Februar 1962 sitzt er im Potsdamer Stasi-Untersuchungsgefängnis Lindenstraße 54; als Toilette dient dort ein 70 Zentimeter hoher Kübel mit Emaillering, „der sich tief eindrückte“. Die Ankläger legen ihm „Kooperation mit Westberliner Stellen“ zur Last; wegen „planmäßiger, staatsgefährdender Hetze und Propaganda“ wird er zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach der Wiedervereinigung erhält Christian Wendland für jeden Tag des unrechtmäßigen Freiheitsentzugs eine Entschädigung – nicht aber für die Zwangsarbeit, die er leisten musste. Jetzt, 25 Jahre nach dem Mauerfall, redet er erstmals öffentlich darüber.

Nach einer zweiwöchigen Station in Neuruppin kommt Christian Wendland ins Gefängnis Magdeburg-Sudenburg. Seine Sechs-Mann-Zelle ist mit 18 bis 21 Häftlingen belegt. Im Ernst-Thälmann-Werk neben der Haftanstalt stehen die Hallen, in denen Wendland und die anderen „Knastologen“, wie er sagt, Zwangsarbeit leisten müssen. Wendland betont das Wort Zwangsarbeit, denn als Architekturstudent war er nicht ausgebildet für die Arbeit an einer Drehmaschine und schon gar nicht an einer, die schon 1928 hergestellt wurde. „NILES 1928“ stand auf einem Schild, die Maschine war Vorkriegsware. „Das war ein Industriemaschinen-Museum, in dem wir da arbeiten mussten.“ An seiner Karusselldrehbank soll Wendland Ventile für Erdölleitungen herstellen. Diese bestanden aus einer säurefesten Bronzelegierung, weil die russischen Freunde nur die schlechte Ölpampe lieferten, die die sowjetische Industrie nicht verarbeiten konnte. Sechs bis sieben Ventile pro Tag, das ist die Tagesnorm. Er schiebt ein Rohr als verlängerten Arm über den Backenschlüssel, um die Rohlinge so kräftig festziehen zu können, dass sie ihm beim Drehen nicht um die Ohren fliegen. Gute Meißel, die den Span akkurat abtragen, sind Mangelware, Wendland erinnert sich an „einen täglichen Kampf um die Meißel“. Zwar wurden die Häftlinge von den Meistern des Betriebes eingewiesen, doch es ist fast unmöglich, „mit den schrottreifen Maschinen Präzisionsarbeit zu leisten“. Wendland spricht von „lachhaften Werkzeugen“ und verwendet die Worte „vorsintflutlich“ und „Schrottmaschinen“; ihm ist anzumerken, dass er, obwohl zu dieser Arbeit gezwungen, obwohl aus politischen Gründen inhaftiert, schon durchaus gern gute Arbeit abgeliefert hätte. Die Klemmfutter der Drehbank sind stark ausgeleiert, deshalb lief der notorische Hinweis der Meister – „gut festschrauben“ – ins Leere.

Eines Tages passiert es: Bei hoher Drehzahl rutscht ein Bronzeventil aus der Verankerung und fliegt Wendland mit hoher Geschwindigkeit in die Magengrube. Der Student ist „ein dünner Hänfling“; der Unfall hätte schlimme Folgen haben können. Doch ein Hammer, der in der Innentasche seiner Drillichjacke steckt, dämpft den Schlag ab. „Das ist ja lebensgefährlich hier“, brüllt Wendland und wirft das Werkstück durch den Saal. Er droht mit einem Brief an den Staatsanwalt und mit Arbeitsverweigerung. „Ich bin mehr oder weniger durchgedreht.“ Die Meister wollen keinen Ärger und keinen Papierkram, Wendland darf fortan an einer besseren Drehbank Tachometer-Gehäuse für Mopeds herstellen. „Das ging gut.“ Er ist heilfroh, nicht zu den Häftlingen zu gehören, die im Stahl- und Walzwerk Calbe aneinandergeklebte Stahlbleche voneinander lösen müssen, in dem sie die heißen Bleche mit einer Art Machete voneinander trennen und dann mit Körperkraft „eine Welle durch das Blech schicken“. Waren die Häftlinge von der Schicht aus Calbe zurück, „sahen sie aus, als wenn sie vom Schlachthof kommen“, berichtet Wendland, „da kam immer jemand mit Verletzungen zurück“. Die Stahlbleche versetzten ihnen zentimeterlange Schnittwunden „oder einer kam mit halbem Ohr nach Hause“. Auf der Sanitätsstelle „hat sie irgend so ein Kurpfuscher verarztet“. Zum Essen gab es meist „Eintöpfe, lieblos zusammengestellt, keine Kraftkost“.

Für ihre Arbeit im Drei-Schicht-System – „die Nachtschicht war die schlimmste“ – erhielten die Häftlinge „einen lächerlichen Lohn“ von etwa 200 DDR-Mark im Monat. Zwei Drittel davon wurde nach Wendlands Angaben für „Unterbringung und Bewachung“ abgezweigt. Von dem einen Drittel, das die Häftlinge erhielten, stand ihnen wiederum nur ein Drittel zur Verfügung – nicht als Bargeld, sondern „zum Anschreiben im Knastladen“. Dazu hatte Wendland – wie bei vielen Gelegenheiten des Knastalltages – seine Gefangenennummer herzubeten, die er noch heute weiß: „Strafgefangener 817 meldet sich, Zelle soundso“. Das übrige Geld erhielten die Häftlinge bei der Entlassung, etwa um sich eine Fahrkarte für die Heimreise kaufen zu können.

Der Leiter der Haftanstalt wird von den Häftlingen „Schweinebacke“ genannt. Als sie einmal von der Nachtschicht kommen, lässt er die Häftlinge antreten. „Schweinebacke“ steht vor ihnen, breitbeinig, grinsend, „in geputzten Lederstiefeln und in diesen komischen Reithosen“. Er sieht aus „wie ein Nazi-Offizier, der vor Juden steht“, erinnert sich Wendland. Er weiß noch genau, wann das war: in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1962. Die 30 bis 40 Häftlinge müssen sich ausziehen. Wendland: „Irgend so ein Natschalnik guckte jedem in den After, ob jemand Werkzeuge in den Knast schmuggelte“. Der vorgebliche Grund für die Aktion: „Die hatten Angst vor einem Häftlingsaufstand“; sie fürchteten, es könnte ein Schraubenzieher reingeschmuggelt und als Dolch verwendet werden. „Schweinebacke“ lachte während der Visitation, „so kann nur ein Perverser lachen“, sagt Wendland und dachte damals, die Juden „hatten es noch viel schlechter als wir, doch jetzt kann ich es doch etwas besser nachvollziehen“. Es ist für ihn „dieselbe deutsche Situation, nur 20 Jahre später“.

Am 12. Dezember 1962 kommt Christian Wendland frei; er kann später wieder Architektur studieren und an der Sanierung von Holländischem Viertel und Potsdamer Innenstadt mitwirken. Der Propaganda, wonach er im humanistischeren der beiden deutschen Staaten lebe, kann er nicht mehr erliegen. „Mit mir ist kein Krieg zu gewinnen“, sagt er, als er den Armeedienst ablehnt und formuliert: „Die Haftzeit war für mich die Bestätigung, die Wiederauferstehung eines postfaschistischen Systems zu erleben, das nichts gelernt hat aus der Zeit zwischen 1933 bis 1945“. Die Staatssicherheit beobachtet ihn unablässig und füllt unzählige Karteikarten, auf der sie ihn ordentlich abstempelt als „Nichtwähler 1970“ oder auch „Nichtwähler 1989“.

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