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Sport: Alltag auf hohem Niveau

St. Pauli wird auch in der dritten Liga von den Massen gefeiert

Hamburg. Der Alltag des FC St. Pauli beginnt an diesem Vormittag mit einem Mann samt Hund. Der Mann wirft Stöckchen, der Labrador rennt hinterher. Der Mann humpelt. Er hat eine Aluminiumschiene am rechten Knie. Es ist Holger Stanislawski. Das Innenband ist gerissen. „Wie geht’s, Stani?“, fragt einer der sieben Rentner am Rande des Trainingsplatzes. Andere Spieler könnte er wohl nicht so einfach erkennen.

Holger Stanislawski, ein Hamburger Jung, der seit zehn Jahren für den FC St. Pauli spielt, ist das letzte bisschen Bekanntheit, der letzte Rest an Identifikationsmöglichkeit, den der Klub derzeit bieten kann. Und nun ist er auch noch verletzt, unglücklich gelandet beim 1:1 gegen Preußen Münster am vergangenen Samstag. Es war ein Spiel der Regionalliga, und fast 18 000 Zuschauer kamen ans Millerntor, fast 12 000 von ihnen mit einer Dauerkarte. Am Samstag gegen Dynamo Dresden werden 15 000 Fans erwartet.

Die Liebe der Anhänger zu diesem Klub ist einzigartig in Deutschland. Ohne die Fans hätte der Verein gar nicht überlebt: Noch vor zwei Monaten standen die von Liga eins in Liga drei gestürzten St. Paulianer am Rande des Ruins. Zwei Millionen Euro minus hatten die inzwischen verschwundenen Verantwortlichen im Zweitliga-Jahr erwirtschaftet; die Lizenz für die Regionalliga hing am seidenen Faden. Erst eine Bürgschaft der Stadt und eine äußerst phantasievolle Rettungsaktion mit den schon legendären „Retter“-T-Shirts, dem Gastspiel des FC Bayern, Freiluft-Kino und Konzerten sowie Spenden der Fans sicherten dem Verein das sportliche Überleben. Doch jetzt ist der Spaß vorbei. Der Drittliga-Alltag hat begonnen. Die ganze Unterstützung sei nur ein Vertrauensvorschuss der Fans gewesen, sagt der einfallsreiche Präsident Corny Littmann: „Sie geben der Mannschaft nur einen Kredit. Die muss ihn irgendwann zurückzahlen. Zuneigung und Treue der Fans darf man nicht überstrapazieren. Beides ist endlich.“

Der Alltag des FC St. Pauli, das ist auch die verwaiste Cafeteria auf dem Trainingsgelände, wo in einer ganz weit zurückliegenden Vergangenheit vor nur anderthalb Jahren der ehemalige Trainer Dietmar Demuth mundfaul, aber sympathisch erklärte, wie der Stadtteilklub gedenke, Bayern München und Borussia Dortmund zu besiegen. Damals, in der Ersten Liga. Es gab einen angestellten Wirt, es gab 20 Reporter vor jedem Heimspiel, es gab Leben in der Bude. Heute kickern hier nur noch die beiden Journalisten der Hamburger Boulevardzeitungen, um sich die Zeit bis zum Trainingsende zu vertreiben. Kaffee gibt es aus der Thermoskanne, zum Selberzapfen.

Präsident Littmann steht für diesen Sparkurs, mit Grundgehältern von kaum 2000 Euro, der Einstellung des Vereinshefts, Kündigungen auf der Geschäftsstelle und im Umfeld der Mannschaft, zuletzt der Verzicht auf den Mannschaftsbus. Damit befindet er sich im permanenten Spannungsverhältnis zu Trainer Franz Gerber. Unverhohlen poltert der gegen die „Ahnungslosen“ in der Führung. Er will mehr Geld für sein Team. Und wer die Mannschaft im Training gesehen hat, leidet mit Gerber: Alle 30 Sekunden unterbricht er das Trainingsspielchen sieben gegen sieben. Die Szene ist eingefroren – Gerber führt die Fehler seiner neuen Spieler vor. Diese vielen Fehler. Im Training. Und dann erst im Spiel. Mehr als hundert Fußballer wurden ihm angeboten, 16 hat er verpflichtet, 22 ziehen lassen. Die Konturen der Mannschaft sind schemenhaft. Gerber schwankt zwischen zwei Sätzen: „Die Mannschaft braucht noch Zeit.“ Und: „Die können kein Fußball spielen.“

Präsident Littmann ist zuversichtlicher. Seine Beziehungen ins Rathaus haben die Bürgschaft erst ermöglicht, die neu akquirierten Sponsoren wären ohne Littmann nicht gekommen. Ihn stört höchstens, dass sein Trainer die konservative Haushaltspolitik nicht versteht. Kleine Bühne, große Wirkung, das ist sein Motto. Er sagt: „Wir wollen in ein, zwei Jahren wieder aufsteigen.“ Bis es so weit ist, werden auch zum Spiel gegen Neumünster Anfang November 15 000 Zuschauer kommen. Holger Stanislawski wird wahrscheinlich wieder dabei sein und zu den Höllenglocken von AC/DC einlaufen, den Fans auf allen Rängen applaudieren und die Kollegen heiß machen. Als wäre nichts geschehen.

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