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Sport: Am Rande des Wahnsinns

HSV-Torwart Sascha Kirschstein handelt sich Lob vom FC Bayern ein – und das entscheidende Tor

München - Der Motor lief schon, doch die Profis des Hamburger SV mussten sich noch gedulden. Der Bus rührte sich keinen Zentimeter, einer aus der Reisegruppe fehlte. Also musste Teammanager Marinus Bester noch einmal zurück in die Eingangshalle der Allianz Arena, und tatsächlich lehnte noch jemand in HSV-Trainingsanzug und HSV-Kappe am Absperrgitter. „Kirsche, Abfahrt!“, rief Bester dem großen jungen Mann im Tonfall eines Vaters zu, der seinen kleinen Sohn am späten Heiligabend zum Insbettgehen ermahnen muss: „Los jetzt, komm! Du kannst morgen mit deinen Geschenken weiterspielen.“

Vermutlich hätte der Adressat Sascha Kirschstein tatsächlich noch bis zur Weihnacht über dieses Spiel reden können. Seinen eigenen Anteil daran wollte der HSV-Torhüter in aufrichtiger Bescheidenheit nicht zu hoch bewertet wissen, vielmehr schien er seine Eindrücke von diesem erlebnisreichen Abend unbedingt teilen zu wollen, jenem 0:1 nach Verlängerung im Achtelfinale des DFB- Pokals bei Bayern München. Er sprach von den unzähligen Schüssen, die auf sein Tor geflogen kamen, von der knisternden Atmosphäre und irgendwann von dem Spielball, übrigens auch der offizielle WM-Ball, den er wegen seiner offenbar seltsamen Flugeigenschaften in erfrischender Ehrlichkeit mit alternierenden Termini aus der Fäkalsprache bedachte.

Dass es Kirschstein schwer fiel, loszulassen von diesem Spiel, war verständlich, schließlich war es 113 Minuten lang sein Pokalabend gewesen, selbst die gegnerische Prominenz adelte ihn zum „Mann des Spiels“ (Bayern-Trainer Felix Magath), Uli Hoeneß fand es „fast wahnsinnig, was der gehalten hat“, „80 Chancen“ hätte der zunichte gemacht, übertrieb der Manager schamlos.

In der Tat verdiente die Leistung des 25-Jährigen höchste Anerkennung, doch sie enthielt noch eine zweite, für den HSV weniger erfreuliche Wahrheit. Denn Kirschsteins Auftritt stand ob des nicht ganz unhaltbar scheinenden Treffers von Owen Hargreaves – den zuvor David Jarolim unbeaufsichtigt gelassen hatte - exemplarisch für die Geschichte des Spiels, die sich aus Hamburger Sicht verkürzt so darstellte: dem Gegner lange Zeit auf Augenhöhe begegnet, phasenweise über sich hinausgewachsen, um dann einzusehen, dass in München derzeit eine Unachtsamkeit reicht, um am Ende ohne Ertrag dazustehen. „So sind sie halt, die Bayern“, sagte Kirschstein, bevor er Richtung Bus stapfte. In seiner Stimme lag eine Mischung aus stiller Resignation und bestätigender Anerkennung. Bisher hatte er das ja nur vom Fernseher gekannt – er, der den verletzten Stammtorwart Stefan Wächter eigentlich nur anständig vertreten sollte.

An der guten Stimmung der Hamburger änderte die ärgerliche Niederlage nichts. „Wir haben eine fantastische Serie hinter uns. Das hätte uns doch vor einem Jahr keiner geglaubt – nach dem 8. Spieltag der letzten Saison waren wir 18., jetzt sind wir Zweiter“, sagte Stefan Beinlich. Trainer Thomas Doll wertete den Auftritt seiner Elf ebenso positiv wie Dietmar Beiersdorfer. „Wir haben endlich wieder eine Mannschaft, die wirklich Gesicht hat, Profil und Ausstrahlungskraft“, sagte Sportchef Beiersdorfer. Er klang wunschlos glücklich in diesem Moment, drei Tage vor Heiligabend.

Daniel Pontzen[München]

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