zum Hauptinhalt

Sport: Anstehen für die Tradition

Wieder hat es kein Brite ins Finale des wichtigsten Tennisturniers geschafft, doch das macht nichts – denn Wimbledon ist zeitlos

Ross Walker stand ganz kurz vor dem Ziel. Wie jeden der vergangenen 21 Julianfänge stand er da, doch diesmal war er besonders enthusiastisch. „Das ist die größte Chance in meinem Leben, endlich mal einen Briten in Wimbledon siegen zu sehen“, sagte Walker. Deswegen hat er „The Queue“ durchgestanden. Mehrere Kilometer lang ist die Schlange aller Schlangen vor den Toren des heiligen Tennisareals im Südwesten Londons bisweilen, manche der Einlassbegehrenden campen sogar über Nacht in Reih und Glied, um am nächsten Morgen eine gute Ausgangsposition zu haben.

Wie Ross Walker. Für den Schotten Andy Murray, die große Tennishoffnung der Insel, hat der Engländer sogar das St.-Georgs-Kreuz zu Hause gelassen und ist im großbritischen Union-Jack-Shirt aufgetaucht. Denn: „Man muss seine Pflicht erfüllen und das Beste dafür tun, in dieser historischen Stunde auf den Grounds zu sein.“ Walker war nicht der Einzige, der eine fast nationale Verpflichtung zur Anwesenheit verspürte, selbst die Queen hatte sich angekündigt. Das Happy End blieb ihm und den anderen Wartenden jedoch verwehrt, wie so oft in Wimbledon: Zwar fand Walker Zugang zum All England Lawn Tennis Club, doch am Freitag um 18.45 Uhr Ortszeit war der britische Traum zu Ende. Murray unterlag im Halbfinale Andy Roddick in vier Sätzen. Nun trifft der Amerikaner im Finale am Sonntag um 15 Uhr auf Roger Federer.

Wimbledon allerdings wird an Murrays Niederlage nicht zugrunde gehen. Das Tennisturnier ist auch ohne Briten im Finale in seiner 123. Ausgabe weiterhin ein Phänomen, weil es so kompromisslos zeitlos ist, auch und gerade in schweren Zeiten. Während die bekannte Welt um die noble Anlage im Südwesten Londons herum jeden Tag mehr ein Stück in sich zusammensinkt, bleibt Wimbledon mit einer fast schon ignoranten Attitüde stoisch auf Kurs.

„Es ist ein Privileg und kein Recht, in Wimbledon dabei zu sein“, lässt der ehrwürdige AELTC verlauten. Ein riesiger Apparat an Mitarbeitern in den unterschiedlichsten Uniformen wacht geheimdienstgleich über den Zutritt zu den heiligen Grounds und die Einhaltung der für Außenstehende bisweilen wenig nachvollziehbaren Regeln. Die wichtigste dabei ist, den Verzicht mit Geduld und Anstand zu ertragen. Diese Regel ist auch in „The Queue“ unverhandelbar. Jeder der glücklichen Teilnehmer bekommt dafür eine sogenannte Queue-Card. „Die Karten sind fortlaufend nummeriert“, sagt Elaine, die am Einlass patrouilliert. So kann sich der Anwärter wieder an seiner Stelle einsortieren, wenn er den Schlangenspaß kurz für unvermeidliche Begleiterscheinungen wie Toilettengänge unterbrechen muss. Die Frage, ob das bisschen Tennis diese Mühe wert ist, stellt sich nicht. Wimbledon ist nicht irgendein Turnier, sondern schlicht „The Championship“, Ende der Diskussion.

Queueing ist den Engländern nicht fremd, doch rund um den Centre Court wird ihre Neigung dazu auf die Spitze getrieben. Ob für Tickets, Essen, Getränke, Toiletten, Souvenirs – man kann und muss eigentlich für alles anstehen. Selbst um an gebrauchte Tennisbälle zu gelangen, formen die Menschen bereitwillig und wie immer ohne Murren 50 Meter lange Reihen.

Praktisch vor jeder begehbaren Tür ist ein Schlangenleitsystem installiert. Die sind keineswegs immer notwendig, aber wie vor einem eigentlich halbleeren Szeneclub beschwören sie auch in Wimbledon noch an den seltsamsten Orten wie am vereinsamten Verkaufsstand für die Dutchees genannten Wurstbrötchen das Gefühl herauf, Teil von etwas Außergewöhnlichem zu sein.

Eine Garantie für den erhofften Erfolg gibt es dabei nie, aber genau das macht die Angelegenheit ja auch erst so reizvoll. Wer ein Begehren verspürt, bekommt statt der unmittelbaren Befriedigung meist die freundliche Standardfloskel: „Sorry, aber die Nachfrage ist sehr groß.“ Mal war alles Warten umsonst, weil die Kapazität von 40 000 auf der Anlage erreicht ist und die Tore geschlossen werden. Ein anderes Mal sind die Wimbledon-Schweißbänder für fünf Pfund vergriffen, dann wieder gibt es die berühmten Erdbeeren mit Sahne nicht mehr. Nichts ist ständig verfügbar, und die umgekehrte Psychologie funktioniert. Wer sein Objekt der Begierde tatsächlich vorrätig findet, greift zu und zückt seinen Geldbeutel mit einem seligen Lächeln.

Der organisierte Mangel lässt Wimbledon selbst in der Krise expandieren. Über Geld spricht man hier nicht gerne, so kursieren lediglich Gerüchte über den Preis für das neue Dach über dem Centre Court, das 100 Millionen Pfund gekostet haben soll. Immerhin die Besucherzahlen werden veröffentlicht, und hinter ihnen steht an jedem Tag ein „+“ im Vergleich zum Vorjahr. „Natürlich sind die meisten dieses Jahr wegen Murray gekommen, aber auch wegen der Rezession“, sagt einer der zahlreichen Schlangeneinweiser. „Sie wollen sich einfach hier auf den Hügel setzen und bei einem Picknick mit Tennis ihre Probleme vergessen.“

Denn wer es durch die Zäune schafft, hat noch längst nicht das Recht auf einen Besuch auf dem Centre Court – die Karten für die großen Spiele sind bereits Monate im Voraus per Verlosung verteilt worden. Stattdessen erwirbt man mit dem sogenannten Ground Pass für 20 Pfund das Privileg, die Matches in sengender Hitze oder bei Regen auf einem abgetretenen Rasenhügel über eine flimmernde Großbildleinwand mit Daueraussetzern zu verfolgen.

Nicht nur die Zuschauer, auch die Spieler werden gerade von der unnachgiebig schrulligen Art Wimbledons angelockt. „Ich weiß dieses Privileg zu schätzen, dass ich hier spielen darf“, sagt Thomas Haas, der dieses Gefühl in diesem Jahr bis zum Halbfinale gegen Federer auskosten durfte. „Ich habe einen Freund, der zehn Jahre lang versucht hat, sich für Wimbledon zu qualifizieren, nur um einmal dabei zu sein.“ Die sportliche Qualifikation allein reicht allerdings längst nicht aus, auch das Beachten des Dress Codes gehört dazu.

Während die restlichen Turniere immer greller werden, bestehen die Organisatoren an der Church Road beispielsweise weiter auf traditioneller weißer Tenniskleidung. Andre Agassi legte sich deswegen einst mit den Organisatoren an und verzichtete auf seine Teilnahme. Wimbledon saß den Konflikt einfach aus – mit Erfolg. Der Paradiesvogel schlüpfte schließlich doch in ein weißes Dress, wie es nicht erst seit Fred Perrys Tagen in Wimbledon üblich ist.

Perry war übrigens der letzte Brite, der an der Church Road gewinnen konnte, und auch Andy Murray hat das große Warten nicht beenden können. „Ich komme nächstes Jahr wieder und versuche, es besser zu machen“, versprach er immerhin. In Wimbledon hat man dies vergleichsweise gelassen registriert. 71 Jahre sind seit Perrys Sieg ins Land gezogen, da kommt es auf ein paar Monate mehr oder weniger auch nicht mehr an. Vorher wird sich auch zum Finale Federer gegen Roddick am Sonntag wieder eine Schlange bilden, ganz sicher. Wimbledon kann warten.

Christian Hönicke[London]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false