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Sport: Auf Beckers Spuren

Nach seinem Einzug ins Halbfinale will Schüttler das Tennis-Masters gewinnen

Houston. Lange Feiern ist nichts für diesen Star ohne Allüren. Kurz ballt er beide Fäuste, winkt ins Publikum und gibt brav das obligatorische Fernsehinterview. Danach verschwindet Rainer Schüttler mit geschulterter Arbeitstasche vom Centre Court. Seine Körpersprache verrät nicht, dass er beim Masters Cup in Houston etwas Großes geleistet hat: In drei Sätzen hatte er den neuen Weltranglistenersten Andy Roddick bezwungen und das Halbfinale der inoffiziellen Tennis-Weltmeisterschaft erreicht. Dass er gestern dann im letzten Gruppenspiel mit 5:7, 4:6 gegen den Spanier Carlos Moya verlor, war nur noch eine Formsache.

Schüttler hätte nach dem Sieg gegen Roddick Freudensprünge machen können, aber der 27-jährige Hesse beließ es bei einem verschmitzten Grinsen. Er war plötzlich Spielverderber und Partyschreck in einer Person, denn dem frustrierten Roddick wurde ausgerechnet nach dieser Niederlage von Altpräsident George Bush senior die Kristall-Trophäe mit der Nummer eins für eben diese Weltranglistenposition überreicht. „Natürlich bin ich im Moment sehr enttäuscht, es ist ein bittersüßes Gefühl“, sagte der neue ATP-Spitzenreiter, nachdem er in zwei Stunden und 35 Minuten mit 6:4, 6:7 (4:7), 6:7 (3:7) gegen den Deutschen verloren hatte. Im provinziellen Westside Tennis Club zu Houston geht das Tennisjahr turbulent zu Ende. Wird in Texas gar ein neues Erfolgskapitel deutscher Tennisgeschichte geschrieben? Zuletzt hatte Boris Becker 1995 in Frankfurt das Masters gewonnen. Nun will Schüttler gleich bei seiner WM-Premiere den Coup landen. Das Tennis-Jahr sei ihm bislang wie ein Traum vorgekommen, jetzt wacht er am Sonntagabend vielleicht mit dem Masters-Cup in seinen Händen auf. Die langen Reisen zu den Turnieren dieser Welt, die mit der Finalteilnahme bei den Australian Open im Januar begann, lohnten sich. 28 Turniere hat Schüttler in diesem Jahr gespielt, so viele wie kein anderer Profi. Zwei davon hat er gewonnen: Tokio und Lyon. „Er spielt nicht schön, aber konstant“, lobte Roddick, „und er bringt fast alle Bälle zurück.“

Im dritten und entscheidenden Satz hatte Schüttler fast aussichtslos 0:3 in Rückstand gelegen. „Früher hätte ich es nicht geschafft, aus diesem Loch herauszukommen. Da habe ich immer lange gehadert“, sagte Schüttler. Diesmal holte er drei Spiele in Folge und erzwang den zweiten Tiebreak. „Wenn Sie gegen jemanden wie Andy mit einer derart guten Tiebreak-Statistik spielen, was ist dann Ihre Strategie?“, wollte ein amerikanischer Reporter später wissen. Schüttler antwortete: „Kennen Sie meine Statistik? Die ist auch sehr gut.“ Der Deutsche fühlt sich nicht mehr als Randnotiz im Reich der Superstars. Doch er bleibt ein bescheidener Mensch, und selbst nach dem zweiten Sieg in der Roten Gruppe analysierte der Dauerläufer nüchtern, dass „wir beide nicht unser bestes Tennis gespielt haben“. Viele Aktionen verwehte der starke texanische Wind.

Der für seine Aufschläge berühmte Roddick hatte Probleme mit seinem Service und beging acht Doppelfehler. Schüttler machten die flatternden Bälle vor allem im ersten Satz zu schaffen. Der Weltranglistensechste steigerte sich aber erfolgreich.

Von Match zu Match steigen die Ansprüche Schüttlers, der immer noch die Baseball-Kappe verkehrt herum trägt. Jetzt hat er bereits den Argentinier Guillermo Coria und Andy Roddick in jeweils drei Sätzen bezwungen. Auf einen Sieg und eine Niederlage habe er nach den ersten beiden Einzeln gehofft, sagte Schüttler. Dass er das letzte Gruppenmatch gegen den Spanier Carlos Moya verlor, spielte keine Rolle mehr. Corias Sieg über Moya hatte dem Deutschen als Gruppensieger den Weg ins Halbfinale geebnet.

Dort wartet heute (20 Uhr, live in Eurosport) Andre Agassi, der mit 7:6 (12:10), 3:6, 6:4 über David Nalbandian (Argentinien) triumphiert hatte und sich damit Platz zwei in der Blauen Gruppe sicherte. Im direkten Vergleich führt der amerikanische Publikumsliebling gegen den Deutschen mit 2:1, wobei Schüttler das letzte Match im August beim Masters-Turnier in Montreal für sich entscheiden konnte. „Hier kann jeder jeden schlagen“, sagt Schüttler. Die Zeit der Ehrfurcht aber ist längst vorbei.

Stefan Liwocha

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