zum Hauptinhalt

Sport: Auf der Flucht: Marie-José Pérec gibt Rätsel auf

"Pérec flüchtet!" Als die Australier am Donnerstag aufwachten, präsentierte ihnen "The Sydney Morning Herold" die erste Leichtathletik-Sensation, noch bevor die Wettkämpfe im Olympiastadion angefangen hatten.

"Pérec flüchtet!" Als die Australier am Donnerstag aufwachten, präsentierte ihnen "The Sydney Morning Herold" die erste Leichtathletik-Sensation, noch bevor die Wettkämpfe im Olympiastadion angefangen hatten. Dort war die französische Doppel-Olympiasiegerin von Atlanta für den fünften Vorlauf über 400 Meter am heutigen Freitag eingeteilt worden. Während das Papier mit der überholten Nachricht im Hauptpressezentrum ausgelegt wurde, befand die Läuferin sich nach einem mehrstündigen Flug schon in Singapur. Aber weiter war sie bei ihrer überstürzten Heimreise mit ihrem kleinen Begleittross auch noch nicht gekommen. Denn bei einem Zwischenstopp hatte ihr amerikanischer Freund Anthuan Maybank die Nerven verloren und einen auf sie wartenden Kameramann krankenhausreif geschlagen, woraufhin die Polizei zum Verhör bat. Das verzögerte die Weiterreise erheblich. "Marie-Jose Pérec hat am Mittwoch, dem 20. September, australisches Territorium verlassen. Das bedeutet, dass sie von den Olympischen Spielen zurückgetreten ist", sagten Frankreichs Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) Henri Serandour und Sportministerin Marie-George Buffet in einer gemeinsamen Erklärung. Gleichzeitig traten sie Gerüchten entgegen, Pérec habe sich mit dem überhasteten Aufbruch Dopingkontrollen entziehen wollen. "Die französische Delegation kennt keine Gründe, aber sie möchte klarstellen, dass es keineswegs mit Dopingtests zusammenhängt", hieß es.

Als Grund ihrer Flucht in der Nacht zusammen mit Maybank und dem Rostocker Trainer Wolfgang Meier erzählte Pérecs Managerin Annick Averinos in Paris von einem nächtlichen Drama: Ein unbekannter Mann sei in ihr Hotelzimmer am Hafen eingedrungen und habe sie verbal bedroht. "Deswegen hat sie entschieden, die Spiele in Sydney zu verlassen", sagte Averinos. In Sydney irritierte die mit dem mysteriösen Fall befassten Behörden, dass das Trio keine der nahen Polizeistationen informierte.

Völlig ratlos waren auch das NOK und der Leichtathletik-Verband der Franzosen. Zwischen ihnen und der manches Mal exzentrischen Läuferin hatte schon seit ihrer Ankunft auf australischem Boden vor 14 Tagen absolute Funkstille geherrscht. Die Funktionäre ließen sie gewähren und beklagten sich auch nicht, als sie einer ankgekündigten Pressekonferenz fern blieb. Das Interesse an ihrer Person war enorm, da die Französin als wohl einzige Athletin dem australischen Leichtathletik-Idol Cathy Freeman den Olympiasieg hätte streitig machen können.

So kann die Geschichte mit dem Unbekannten durchaus stimmen. Und eine gewisse Glaubwürdigkeit gewinnt sie durch die Heftigkeit, mit der Pérec ihre Entscheidung traf. Andererseits gab es Spekulationen, die sich vor allem mit Pérecs aktuellem Leistungsvermögen befassten. Nach langer verletzungs- und krankheitsbedingter Pause hatte sie 1999 nach enttäuschenden Ergebnissen die Saison abgebrochen. Erst in diesem Sommer war sie zurückgekehrt. Zweimal startete die 32-Jährige bisher, in Lausanne und Nizza im Juli. Dabei lief sie 22,71 Sekunden über 200 m und 50,32 über 400 m. Das waren angesichts der langen Pause vielversprechende Ergebnisse.

Um fehlende Wettkampfpraxis machte sich Marie-José Pérec angeblich keine Gedanken. Schließlich habe sie ja in Sydney einen Vor- und Zwischenlauf sowie ein Semifinale vor dem Endlauf, erklärte Pérec vor gut zwei Monaten bei einem Interview in Rostock. Dort trainerte sie seit Januar unter ihrem neuen Trainer Wolfgang Meier, nachdem sie den US-Erfolgscoach John Smith verlassen hatte. "Smith hatte zu viele Athleten, und ich brauchte nach meinen Problemen eine intensive Betreuung", erklärte Marie-José Pérec. Die Trainerwahl gilt als durchaus heikel, denn Wolfgang Meier ist der Ehemann und frühere Coach von Marita Koch, die seit 1985 mit 47,60 Sekunden den 400-m-Weltrekord hält. Allerdings wurde später in dem Buch "Doping-Dokumente" offengelegt, dass Marita Koch gedopt war, was sie nach wie vor bestreitet.

Noch nach ihrem Sieg in Atanta hatte die Französin festgestellt, dass ihre Zeit von 48,25 Sekunden ein "drogenfreier Weltrekord" sei. "Die 47,60 Sekunden zählen für mich nicht", sagte Pérec. Doch ihre Ansicht änderte sich, nachdem sie angefangen hatte bei Wolfgang Meier zu trainieren. "Heute glaube ich, dass es sehr wohl möglich ist, 47,60 Sekunden auch ohne Doping zu laufen", erklärte Marie-José Pérec. "Natürlich gab es Vorbehalte, nach Rostock zu gehen. Man denkt auch an Doping bei der ehemaligen DDR. Aber ich musste das alles beiseite schieben, denn ich wusste, dass Meier mir helfen kann. Er macht ein hartes Training, und das brauchte ich", erklärte Pérec. Um selbst nicht in Dopingverdacht zu geraten, gab sie freiwillig etwa alle drei Monate in Paris eine Blutprobe ab. Doch jetzt hat sich der Traum von Pérec, als erste Athletin zum dritten Mal in Folge 400-m-Olympiasiegerin zu werden, im wahrsten Sinne verflüchtigt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false