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Einsamer Anführer: Bastian Schweinsteiger.

© imago/Bernd König

Tritt der Kapitän ab?: Bastian Schweinsteiger: Auf Abstand

Seit mehr als zehn Jahren ist Bastian Schweinsteiger das Gesicht der Nationalelf. Er blödelte mit Podolski, turtelte mit Merkel, erkämpfte den WM-Titel – und könnte nun als tragischer Held abtreten.

Die Nacht kippt gerade in den Morgen, als Bastian Schweinsteiger um die Ecke biegt. Gut hundert Journalisten aus aller Welt drängeln sich im ausgeleuchteten Keller des Stade Velodrom zu Marseille an den blauen Absperrungen, die der Veranstalter nach Uefa-Richtlinien aufgestellt hat. Sie bilden wie in allen Stadien dieser Europameisterschaft eine mäandernde Gasse für die Spieler, die sie auf ihrem Weg von der Umkleide zum Mannschaftsbus zu passieren haben, um dabei noch für die eine oder andere Frage der Reporter bereitzustehen.

Bastian Schweinsteiger kommt als einer der Letzten, er trägt eine kleine Waschtasche unter dem linken Arm und keine ganz so fröhliche Laune im Gesicht. Die deutsche Mannschaft ist eben ausgeschieden, gescheitert am Gastgeber. Schweinsteiger bleibt kurz stehen, weil ihm der Pressemann der deutschen Mannschaft das in diesem Moment so empfiehlt. „Aber nur drei Fragen, bitte“, sagt dieser.

Noch bevor die erste Frage gestellt ist, die nach dem von ihm verursachten Elfmeter kurz vor dem Halbzeitpfiff, kratzt Schweinsteiger sich an den Schläfen. „Ich habe versucht, noch alles zu geben und da noch hinzukommen, vielleicht ging die Hand automatisch hoch. Kann man schwer erklären, wie das passiert ist.“

In der Nachspielzeit der ersten Halbzeit muss Schweinsteiger nach einer Ecke der Franzosen zum Kopfballduell mit Patrice Evra hoch. Evra ist zwar der kleinste der Franzosen und schon 35 Jahre alt, aber Schweinsteiger geht in den Luftkampf mit nach oben gestreckter Hand. Irgendwie kommt er mit seinem Kopf auch an den Ball, aber dieser touchiert dann auch seine Hand. Elfmeter. 1:0 für Frankreich. Der Rest ist bekannt.

Nun steht Schweinsteiger vor einem gewaltigen Strauß aus Mikrofonen und Aufnahmegeräten, die wie Gewehre auf ihn gerichtet sind. Seinen alten Instinkten und Erfahrungen folgend, hält er gebührend Abstand. Er blickt fast immer nach unten, wischt sich einmal mit seiner Rechten ums markante Kinn. Seine Gestik wirkt verlangsamt, er spricht schleppend. Viele „Ähs" und „Mmhs“ durchqueren seine Sätze, seine Stirn liegt in Falten.

„Werden wir Sie noch einmal sehen im Nationaltrikot?“

Mit dieser Frage musste er rechnen, es ist eine der naheliegendsten dieser besonderen und auch traurigen Nacht für den deutschen Fußball. Für ihn selbst scheint sie nach zwölf Jahren im Nationaltrikot wie aus heiterem Himmel zu fallen. „Ich habe darüber nicht nachgedacht, weil ich wirklich versucht habe, meine ganze Energie, die ich noch hab, in dieses Turnier hier reinzulegen.“ Für diesen Satz braucht Schweinsteiger eine gefühlte Ewigkeit.

Er erzählt noch kurz, dass es nicht so einfach sei, „nach den zwei Verletzungen“, und dass es natürlich immer enttäuschend ist, wenn „du ausscheidest“. Dann macht er eine kleine Pause. Zum Luftholen und Nachdenken. Er hebt den Kopf und sagt: „Der Weg der Mannschaft geht mit Sicherheit weiter. Bei mir persönlich – das muss ich mir mit einem gewissen Abstand überlegen.“

Dann geht er weiter, hinaus in die Nacht. Und mit ihm der deutsche Traum vom EM-Titel.

Schweinsteigers Verdienste in allen Ehren, aber für die Nationalelf hat er ausgedient. Nach der verkorksten EM sollte er zusammen mit Jogi Löw zurücktreten, um einen ehrvollen Abschied zu haben. Ansonsten werden beide zu tragischen Figuren.

schreibt NutzerIn kasimir1945

Die Bundeskanzlerin war dieses Mal nicht im Stadion

Millionen Deutsche haben diesen Traum in diesem Sommer geträumt. Vor zwei Jahren ist die eine große Sehnsucht dieser Fußballnation fürs Erste befriedigt worden. In Rio gewann das deutsche Team zum vierten Mal die Weltmeisterschaft, 24 Jahre nach dem dritten WM-Titelgewinn von Rom. Und Bastian Schweinsteiger war einer der Helden dieser magischen Nacht im Maracana.

Die Bilder von ihm haben sich eingebrannt ins deutsche Fußballgedächtnis, wie er sich selbst von einem blutenden Cut unter dem Auge nicht aufhielten ließ und sich in jeden sich bietenden Zweikampf gegen die Argentinier warf. Wieder und immer wieder stand er auf und kämpfte und lenkte. Bastian Schweinsteiger, der zu den Gründungsvätern einer Fußballergeneration gehört, die so schön spielen konnte, aber seit 2006 irgendwie nie den letzten Schritt hatte setzen können, wollte wie kein Zweiter im Team diesen Schritt endlich setzen. Dieser Titel, der einen unsterblich macht in der Welt des Fußballs. Wie heißt es doch so schön: Weltmeister bleibst du immer.

Bastian Schweinsteiger wurde nach dem Titelgewinn gefeiert wie ein Held, Angela Merkel herzte ihn noch in der Kabine, Joachim Gauck war auch da, der Bundespräsident. Die Bilder aus jener glückseligen Nacht gingen um die Welt.

Ständige Begleiterin. Angela Merkel bei der EM 2008 mit Schweinsteiger.
Ständige Begleiterin. Angela Merkel bei der EM 2008 mit Schweinsteiger.

© Imago

Jetzt gehen andere Bilder um die Welt. Sie zeigen eine deutsche Mannschaft, die gut, die vielleicht sogar besser Fußball gespielt hatte als Frankreich, und doch verlor. Und sie zeigen Schweinsteiger mit bandagierten Beinen und gesenktem Haupt.

Die Bundeskanzlerin war dieses Mal nicht im Stadion, auch Gauck nicht. Dieses Mal soll Sigmar Gabriel da gewesen sein. Bilder gibt es davon keine.

Zur Kanzlerin hatte Schweinsteiger Zeit seiner Karriere immer ein besonderes Drähtchen. Als er bei der EM 2008 mal für ein Spiel gesperrt war und auf der Tribüne Platz genommen hatte, erklärte er ihr mal, was eine Coaching-Zone ist. Man sah die Frau Bundeskanzlerin, wie sie begeistert zuhörte. Angela Merkel fungierte schon fast wie eine Glücksbringerin, in ihrer Regentschaft hatte sie es sich nie nehmen lassen, der Mannschaft alle zwei Jahre bei großen Turnieren einen Besuch abzustatten. Wie bei der EM 2008 in Österreich oder der WM 2010 in Südafrika. Bei der Weltmeisterschaft 2014 war sie sogar gleich zweimal drüben in Brasilien, zum Auftakt und zum Finale. Und an ihrer Seite immer auch Schweinsteiger.

Während der Heim-WM 2006 waren der junge Schweinsteiger und Lukas Podolski die Strahlemänner des Sommermärchens, die heimlichen Helden in Sönke Wortmanns WM-Film. Es schien, als verkörpere niemand so gut wie die beiden diese junge, unfertige, aber sympathische Mannschaft, die als ein Versprechen auf die Zukunft galt. Unvergessen sind die Bilder aus dem Oktober 2006, als Schweinsteiger zur Filmpremiere einen langen weißen Schal umgelegt hatte und der Kanzlerin zuturtelte: „Sie können mich immer duzen.“

Über eine Dekade war Bastian Schweinsteiger das Gesicht dieser Mannschaft, einst ein unverbrauchtes, jungenhaftes Gesicht, das über die Jahre markanter wurde, in das sich immer mehr auch die Mühen und Strapazen hineinlegten. Es ist bekannt in aller Welt.

Rio vor zwei Jahren, das wäre der Zeitpunkt für einen grandiosen Abschied aus der Nationalmannschaft gewesen.

Alles lag vor ihm auf dem Tablett, seine eigene epische Finalleistung dazu der güldene Pokal, es passte alles. Schweinsteiger hätte die Kanzlerin noch in der Kabine zur Seite nehmen und ihr seinen Abschied aus dem Nationalteam zuflüstern können. Sie hätte vermutlich ihr großes Bedauern ausgedrückt, und bestimmt wäre eine halbe Nation zu Tränen gerührt gewesen.

Das aber tat Schweinsteiger nicht. Im Gegenteil. Miroslav Klose, Per Mertesacker und Philipp Lahm traten ab. Vor allem Lahm, was niemand gefordert hatte. Nachdem Lahm also die Gunst der Stunde erkannt und seinen Rücktritt am Morgen danach bekanntgegeben hatte, ließ Schweinsteiger sich zu dessen Nachfolger ernennen. Joachim Löw tat das am 2. September 2014.

Und so liegt über der Nacht von Marseille auch eine kleine Tragik. Aus dem Helden von Rio ist über Nacht ein tragischer Held geworden. In seinem 120. Länderspiel für Deutschland.

2004 kurz vor der EM in Portugal begann Schweinsteigers Karriere in der Nationalelf, die eine besondere, eine großartige werden sollte. Der frühere Teamchef Rudi Völler hatte ihn neben Podolski mit zur Europameisterschaft nach Portugal genommen. Schon 2006, inmitten des Sommermärchens, mutmaßte Löw, dass Schweinsteiger seinen Zenit wohl erst 2010 bei der WM erreichen werde.

Und das stimmte ja auch. Nachdem Michael Ballack kurz vor dem Turnier im englischen Pokalfinale kaputtgetreten worden war, rückte Schweinsteiger in die Zentrale des Spiels und in die Rolle des emotionalen Leaders, wie Löw es nannte. Zusammen mit Kapitän Lahm interpretierte Schweinsteiger die Chefrolle neu, vor allem anders als Ballack, der von oben regierte. Schweinsteiger tat das gemeinschaftlicher, auch taktvoller.

Wenn Lahm der Kopf dieser aufstrebenden Mannschaft war, die 2010 über England und Argentinien mit aufregendem Fußball und voller Hingabe hinwegfegte, so war Schweinsteiger ihr Herz. Er hatte Fantasie in seinen Füßen und etwas Mitreißendes in seiner Ausstrahlung.

Auch Schweinsteigers Karriere hing mal in den Seilen, seine Entwicklung war ins Stocken, wenn nicht gar ins Straucheln geraten. Seine Haare ließ er silbern einfärben, seine Fingernägel bekamen schwarzen Lack. Schweinsteiger war auf dem Weg, ein öffentliches Produkt zu werden. Das belastete ihn. Er lenkte sich im Nachtleben ab. Er esse zu viel, hieß es damals, weshalb er schwerfällig über den Platz laufe.

Sein damaliger Trainer Ottmar Hitzfeld riet ihm, er solle sich wieder aufs Wesentliche konzentrieren, auf den Fußball. Und Bayerns Manager Uli Hoeneß rief ihm damals in der Presse hinterher, dass das Sommermärchen vorbei sei: „Zu viele Leute haben ihm nach der WM Puderzucker in den Arsch geblasen. Den klopfe ich nun wieder raus.“

Auch dafür liebten die Deutschen Schweinsteiger, als einen, der ihnen noch am nächsten kam von all den hochbezahlten Fußballstars. Und ja, Schweinsteiger war mal der Motor dieser Mannschaft, aber mit den Jahren flog immer mehr das Spiel an ihm vorbei. Seine Verletzungen nahmen zu, seine Ausfallzeiten kamen häufiger und dauerten länger an. Seit der WM 2010 in Südafrika ist Schweinsteiger nicht mehr gesund und im Vollbesitz seiner Kräfte zu einem Turnier angereist. 2012, als seine Patellasehne entzündet war und er nach eigenem Bekunden Mühe hatte, Treppen zu steigen, schleppten seine Mitspieler ihn bis zum Halbfinalaus gegen Italien durch die Europameisterschaft. Auch bei der WM 2014 brauchte er einen langen Anlauf, ehe er ins Turnier eingreifen konnte und erst im Finale der Mannschaft wirklich half.

Wenn Philipp Lahm (rechts) einmal der Kopf dieser aufstrebenden Mannschaft war, so war Schweinsteiger ihr Herz.
Wenn Philipp Lahm (rechts) einmal der Kopf dieser aufstrebenden Mannschaft war, so war Schweinsteiger ihr Herz.

© Imago

In Ascona vor knapp sieben Wochen, im Trainingslager vor der Europameisterschaft, konnte er nicht mal mit der Mannschaft trainieren, zwei Verletzungen hatten ihm zugesetzt. Für seine Vereinsmannschaft Manchester United hatte er Anfang Januar das letzte Mal in der Startelf gestanden. Selbst im Viertelfinale gegen Italien, als er nach einer Viertelstunde für den verletzten Sami Khedira ins Spiel kam und 105 Minuten durchhielt, war ihm die fehlende Matchpraxis deutlich anzusehen.

Natürlich ist Schweinsteiger nicht Schuld am Aus bei dieser sich neigenden EM in Frankreich, er konnte es nur nicht mehr aufhalten und abwenden. Vielleicht hat er das Ausscheiden begünstigt durch seine unglückliche Aktion, die seine Mannschaft in einen, wie sich zeigen sollte, verhängnisvollen Rückstand hatte geraten lassen. Am Ende hat die Mannschaft die Wende nicht mehr geschafft.

Zehn Minuten vor dem Ende verließ Schweinsteiger das Feld. Für ihn kam der 20 Jahre alte Leroy Sané. Es war ein Moment, der ein bisschen sinnbildlich war. Das Vergangene machte Platz für die Zukunft.

Man weiß von anderen großen Sportlern, wie schwer es fällt loszulassen, den rechten Moment zu ergreifen. Wollte Schweinsteiger am Ende zu viel? Hat er die Zeichen der Zeit nicht erkannt? Vielleicht hat er nicht genug auf seinen Körper gehört, in ihn hineingehorcht, wie dass Sportler doch so gut lernen und können. Und wenn, was wird er ihm gesagt haben? Vielleicht wollte er es einfach ignorieren, obwohl die Signale bis hoch auf die Ränge der Stadien unüberhörbar waren.

Und so wird die Nacht von Marseille gerade auch mit seinem Namen in Verbindung gebracht bleiben. Er wird es verschmerzen, dieser Kirk Douglas des deutschen Fußballs aus dem bayerischen Alpenvorland. Er hat dem Fußball viele schöne Stunden geschenkt mit seiner Kunst, und er hat viele Menschen teilhaben lassen an seinem Spiel, an großen Niederlagen und großen Siegen. Bastian Schweinsteiger wird einen schönen, einen prominenten Platz bekommen in der deutschen Fußballgeschichte. Er sollte ihn jetzt annehmen.

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