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Sport: Das Ausmaß des Betrugs

Die Prozessakten von Thomas Springstein dokumentieren das Scheitern des Dopingkontrollsystems

Berlin - Es sind 110 Seiten, und wer auch immer sie gelesen hat, wird danach sein Bild vom Doping ändern. Helmut Digel etwa, der Vizepräsident des Internationalen Leichtathletik-Verbandes, beschreibt seine Reaktion so: „Ich war zunächst überrascht, dann empört, und am Ende hat es mich nur noch angeekelt.“ Die 110 Seiten hatte die Staatsanwaltschaft in Magdeburg nach einer Hausdurchsuchung beim Leichtathletiktrainer Thomas Springstein zusammengestellt. Sie liegen dem Tagesspiegel vor und bestehen aus Vergabeplänen und Bestelllisten für Dopingmittel, aus E-Mails, in denen sich Springstein mit dem spanischen Arzt Miguel Peraita über Betrugsmethoden im Sport austauscht. Springstein ist inzwischen wegen Dopingvergabe an eine damals minderjährige Athletin zu einer Bewährungsstrafe von 16 Monaten verurteilt. Der Prozess gegen ihn ist seit einem halben Jahr zu Ende, doch nachdem die Staatsanwaltschaft Magdeburg dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) und der Nationalen Anti-Doping-Agentur (Nada) Einsicht in die Akten gegeben hat, geht ein Aufschrei durch den Sport. Denn die Akten dokumentieren das Scheitern des Dopingkontrollsystems.

Wohl noch nie haben Sportfunktionäre so tiefe Einblicke in die Möglichkeiten der Leistungsmanipulation erhalten. Auf ihrer Grundlage hat der DLV auch Strafanzeige gegen Peraita und den niederländischen Athletenmanager Jos Hermens erstattet und ein Ermittlungsverfahren gegen mehrere Athleten eingeleitet, darunter Springsteins Lebensgefährtin Grit Breuer. „Hier tut sich ein Abgrund nach dem nächsten auf“, sagt Nada-Geschäftsführer Roland Augustin. Es gab bisher viele Befürchtungen über das Ausmaß des Betrugs im Sport. Die Prozessakten könnten nun Erahntes belegen und aus Befürchtungen Gewissheiten machen.

1. Dopingkontrollen haben wenig Wirkung

Die professionellen Betrüger sind den Fahndern nicht nur, wie bislang angenommen, einen Schritt voraus. Sie sind außer Sichtweite. Peraita hat für Springstein Listen mit teilweise exotischen Substanzen erstellt. „Wir müssen damit rechnen, dass hier mit Substanzen gearbeitet wird, die wir noch nicht kennen“, sagt Professor Wilhelm Schänzer, der Leiter des Kölner Dopingkontrolllabors. Er vermutet dabei auch unzulässige Hormonpräparate.

Manche Substanzen kennen die Fahnder, können sie aber nicht nachweisen, beispielsweise den Wachstumsfaktor IGF1, der in Akten mehrfach auftaucht. „IGF1 ist ein großes Problem“, sagt Schänzer, „es ist im Grunde gar nicht auf dem Markt, sondern wird nur in der Forschung verwendet.“ Diese Substanz soll zum einen Körperfett abbauen und zum Muskelwachstum beitragen, aber auch die Ausdauerleistung durch Vermehrung von roten Blutkörperchen steigern.

Im E-Mail-Verkehr zwischen Springstein und Peraita äußern beide an keiner Stelle Furcht vor Dopingkontrollen – obwohl in zahlreichen Listen verbotene Substanzen genannt werden, auch Erythropoetin (Epo), vor allem aber Insulin und Wachstumshormon. Beide Substanzen sind nur im Blut nachweisbar, und Bluttests finden nur im Wettkampf statt, nicht im Training.

Falls aber doch einmal die Sorge besteht, bei einer Dopingprobe positiv aufzufallen – kein Problem. Dafür gibt es einen „Shake“. In der Anleitung heißt es: „Trink den Shake nur an den Tagen, an denen du sauber sein willst. Du musst zwei bis dreimal urinieren, um zufriedenstellende Ergebnisse zu bekommen. Dann kannst du vor und nach dem Rennen pissen und dann zur Kontrolle gehen.“ Woraus dieser Shake besteht? „Ich weiß nicht, was da drin sein könnte“, sagt Schänzer.

Ein beliebtes Mittel, um die Leistung zu steigern, ohne erwischt zu werden, ist auch dies: Einfach mit verbotenen Substanzen in so feinen Mengen dopen, dass die zulässigen Grenzwerte nicht überschritten werden. Das geht zum Beispiel mit Testosteronpflastern, die ebenfalls genannt werden. „Die Niedrigdosierung von Testosteron ist für den Nachweis schwierig“, räumt Schänzer ein.

Seit 1998 sind Bestellungen von Dopingmitteln von Springstein dokumentiert, nie wurde jedoch ein Mitglied seiner Trainingsgruppe des Dopings überführt. Jetzt unternimmt der DLV mit den Akten einen neuen Anlauf, um zu beweisen, dass das Kontrollsystem unterlaufen wurde. Nicht zuletzt auf Grundlage dieser Akten hat die Nada ihre Einstellung zu einem Anti-Doping-Gesetz verändert. Sie befürwortet jetzt ein hartes Durchgreifen des Staates. Auch Helmut Digel sagt: „Der organisierte Sport hat keine tauglichen Instrumente gegen Doping.“

2. Doping findet in Netzwerken statt

Ein deutscher Trainer soll sich laut den Akten von einem spanischen Arzt einen Behandlungsplan für seine Athleten aufstellen lassen und das Geschäftliche über einen niederländischen Athletenmanager abgewickelt haben. Die Grenzen sind längst gefallen, wenn es darum geht, sich zu einem Dopingnetzwerk zusammenzuschließen. Doch das ist nicht alles. So schreibt Peraita über den Blutersatzstoff Oxiglobin: „Wir versuchen es aus Krankenhäusern in den USA zu bekommen, aber es ist sehr schwierig in diesen Tagen.“ Im Austausch von Ärzten und Trainern entsteht auch eine hohe Doping-Fachkompetenz. „Was an Wissen dahintersteckt, ist unglaublich“, sagt Nada- Chef Augustin.

3. Doping ist ein großes Geschäft

Mit der Entwicklung von Dopingplänen und dem Handel von verbotenen Substanzen ist viel Geld zu verdienen. In der Prozessakte findet sich eine „Preisliste für Eliteathleten“, vermutlich für ein Behandlungsprogramm von Peraita. Im ersten Jahr müssen die Athleten 15 000 US-Dollar bezahlen, im zweiten 12 000. Außerdem werden Rechnungen für Substanzen gestellt, mal über 6525 Euro, mal über 2644 US-Dollar für „technische Hilfestellung“. Springstein überweist einmal 18 500 und einmal 20 554 Mark nach Madrid für „Leistungssportdiagnostik“. Ein anderes Mal kündigt er Zahlungen an in Höhe von 3500 Mark für „Produkte für Grit“ und 3000 Mark „Honorar für den Doc für neue Instruktionen für den neuen Athleten für drei Monate“.

4. Dopingbetrug kennt keine Skrupel

Springstein und Peraita haben sich über Substanzen ausgetauscht, die zwar nicht nachweisbar sind, aber auch noch nicht ausreichend wissenschaftlich erforscht. So ist Oxiglobin laut Schänzer in den USA nur in der Tiermedizin zugelassen. „Hier wird deutlich, dass ein Arzt, der seines Berufsstandes nicht würdig ist, alle Grenzen überschreitet“, sagt Digel. Auch Springstein hat jedoch Erfahrung mit Substanzen aus der Tiermedizin. Beim Medikamentenskandal Anfang der Neunzigerjahre hatte er seinen Sprinterinnen Breuer und Katrin Krabbe Clenbuterol gegeben, ein Mittel aus der Kälbermast.

Die gefährlichste erwähnte Substanz ist jedoch Repoxygen. „Kannst du da Repoxygen bekommen?“, fragt Peraita Springstein. Und der Trainer schreibt dem Arzt: „Das neue Repoxygen ist schwer zu bekommen.“ Repoxygen ist ein Gendopingmittel. Es verändert die menschliche Erbstruktur. In der Forschung ist Repoxygen bisher nicht über den Tierversuch hinausgekommen.

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