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Sport: Das Rücklicht

Hans de Clercq kann den Jubel der Zuschauer nicht genießen – er ist der Letzte der Tour

Saint-Maixent-L’École. Belgier und Franzosen mögen einander nicht besonders, und das nicht nur wegen der noch immer von vielen nur widerwillig geduldeten Zugehörigkeit der wallonischen Provinzen zum belgischen Königreich. Die beiden westeuropäischen Völker pflegen seit jeher die Unterschiede in ihren Mentalitäten: Die in Frankreich ungebrochen beliebten Belgierwitze sind nur das sichtbarste Zeichen der unterschwelligen franco-belgischen Feindseligkeit.

Vielleicht sind diese Witze der Grund dafür, dass der Flame Hans de Clercq vom Team Lotto so empfindlich darauf reagiert, wie die Franzosen ihn derzeit behandeln. Hans de Clercq ist Letzter der Tour de France – mit vier Stunden und 40 Minuten Rückstand auf Lance Armstrong liegt er derzeit auf dem 149. Rang. Die Franzosen finden das putzig. Die „Lanterne Rouge“, das Rücklicht der Tour, hat bei der Tour seit jeher einen besonderen Stellenwert. Fast jeden Tag wird Hans de Clercq an der Strecke bejubelt und angefeuert, besonders dann, wenn er wieder einmal mit einer Stunde Rückstand einsam über eine Passhöhe oder den Zielstrich gefahren kommt.

Es gab Fahrer, die genossen den Kult, der bei der Tour um den letzten Mann gemacht wird. Der Österreicher Gerhard Schoenebacher war so einer. Er fand die Popularität, die ihm der letzte Rang einbrachte, so schön, dass er gleich zweimal hintereinander diesen Rang belegte: 1979 und 1980. Was dazu führte, dass die Tour-Leitung eine Weile lang täglich den Letzten des Rennens von der Weiterfahrt am nächsten Tag ausschloss. Leute wie Schoenebacher, die es auf die Lanterne Rouge abgesehen hatten, sollten nicht auch noch ermutigt werden.

Doch so einer ist Hans de Clercq nicht. Er empfindet den Applaus der Franzosen als Spott. „Ich schäme mich“, hatte er in den Alpen gesagt und war richtiggehend erleichtert, als ihm der Italiener Raffaelo Ferrara in den Pyrenäen den letzten Platz vorübergehend abnahm. Doch die Erleichterung währte nicht lange: Ferrara gab einen Tag später das Rennen auf.

Einmal, immerhin, lag De Clercq in Führung. Beim Einzelzeitfahren in Cap Découverte durfte er als Gesamtletzter als Erster auf die Strecke. Doch die Erfahrung geriet ihm nur zu einer Wiederholung dessen, was ihm ohnehin Tag für Tag widerfuhr. Ganz alleine legte er die 48 Kilometer zurück, und das nicht nur, weil es ein Einzelzeitfahren war. Das Begleitfahrzeug seiner Mannschaft, das beim Zeitfahren jedem Fahrer zusteht, verwechselte ihn mit seinem Mannschaftskameraden Nick Gates und folgte dem Australier statt dem Belgier. De Clercq musste als einziger Starter ohne Begleitung auskommen.

Die Episode trug ihm noch mehr die französischen Sympathien ein, die er als Spott empfindet. „Ich möchte nicht dafür bekannt sein, Rennen zu verlieren, sondern Rennen zu gewinnen“, sagt der 34-jährige de Clercq, dessen größter bisheriger Profi-Erfolg der süße Sieg bei den Haribo Classics im Jahr 2001 war.

In diesem Jahr wollte er bei der Tour eine Etappe gewinnen, und trotz seines Abschneidens hat er bis heute diese Ambitionen nicht aufgegeben – auch am Sonntagfrüh wird de Clercq noch von einem Sieg am Place de la Concorde träumen. Es ist seine einzige Chance, nicht nur für seinen letzten Platz in Erinnerung zu bleiben: Der Vorsprung des Vorletzten, Alessandro Bertolini, beträgt mittlerweile gut 20 Minuten.

Reiner Guareschil

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