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Sport: Der Held, den keiner kennt

Albert Sing betreute die deutschen Fußball-Weltmeister von 1954 – doch bei der Renaissance des „Wunders von Bern“ wurde er vergessen

Die Zugtüren werden zugeschlagen, die deutschen Fußballweltmeister setzen zur Triumphfahrt in die Heimat an. Bern 1954. Auf dem Bahnhof zurück bleibt Albert Sing, der Betreuer des Sensationsweltmeisters. Albert Sing winkt den vom Finalsieg über Ungarn berauschten Spielern zu. Er ahnt noch nicht, dass vom Zeugwart bis zum Trainer alle aus der deutschen Delegation zu gefeierten Helden werden würden. Alle, außer ihm.

Ein halbes Jahrhundert später erinnert sich der 87-Jährige in seinem kleinen Häuschen nahe Lugano an die legendäre WM. Er erzählt ausführlich und mit Leidenschaft. Wie jemand, den man zu selten danach gefragt hat. Nur einmal entschwinden seinem Gesicht die sonst so altersmilden Lachfalten: beim Gedanken an den Deutschen Fußball-Bund. „Die Mannschaft ist abgefahren, und ich habe nie wieder etwas gehört. Nicht einmal gedankt hat mir der DFB. Und auf den Kosten für das Hotel bin ich auch noch sitzen geblieben.“

Sepp Herberger hatte Sing eigens für die WM engagiert. Der junge Deutsche trainierte damals Young Boys Bern und hatte sich Ansehen in der Schweiz erworben. Schnell entwickelte Sing sich während der WM zum guten Geist im Team: Er schraubte die von Adi Dassler erfundenen Schraubstollen in die Schuhe der Spieler, er organisierte Ausflüge und leitete Einzeltraining mit den Reservisten. Außerdem beobachtete er die Gegner der Deutschen. Seinen vielleicht größten Dienst hatte er der deutschen Delegation schon vor dem Turnierstart erwiesen. Der umsichtige Schwabe hatte die Unterkunft am Thuner See in Spiez besorgt. „Der Hotelchef wollte eigentlich nicht an Deutsche vermieten, weil er dachte, dann würden die holländischen Stammgäste nicht mehr kommen“, erzählt Sing. Er konnte den Hotelier überreden, und Herberger war angetan vom Quartier, wo sich während der WM der legendäre Teamgeist von Spiez entwickeln sollte.

Zu Beginn der 40er Jahre hatte Herberger Sing zum Nationalspieler gemacht. Als 1942 das Training der deutschen Nationalmannschaft in Berlin zu oft durch Bunkeralarme unterbrochen wurde, organisierte Sing kurzerhand ein ruhiges Quartier in Ludwigshafen. „Herberger war damals der Herrgott für mich“, sagt Sing, den die Disziplin und Fachkenntnis des Trainers beeindruckte. Neunmal lief Sing mit dem Hakenkreuz auf der Brust auf. „Für Politik haben wir Spieler uns nicht interessiert. Und der Herberger auch nicht“, sagt Sing. Die Spieler seien nur froh gewesen, dass der Trainer sie für die Länderspiele von der Front zurückgeholt habe, „obwohl das Ganze auch eine Propagandasache für die Nazis war“.

Stolz war Albert Sing, als ihn der Übervater für die WM 1954 zu seinem persönlichen Assistenten machte. „Trotzdem hätte ich es mir nie erlaubt, dem Herberger Ratschläge zu geben. Dafür war der Respekt zu groß.“ Die Chemie zwischen beiden stimmte. Sie hatten ähnliche Vorstellungen vom Fußball und vom Leben. Noch Jahre später forderte Sing von seinen Spielern Einsatzwillen und Charakterstärke. Mit diesen Mitteln wurde er in den Fünfzigerjahren vier Mal hintereinander Schweizer Meister mit Young Boys Bern. Später trainierte er in St. Gallen, in Zürich, den TSV 1860 München und gleich zweimal den VfB Stuttgart.

Schon während des WM-Turniers 1954 kommt es zu ersten Unstimmigkeiten in der deutschen Delegation. Die DFB-Offiziellen schneiden Sing. „Ich wurde behandelt, als ob ich mich ins Team reingedrängt hätte. Dabei hat mich der Herberger gefragt, und nicht umgekehrt.“ Während der WM hält der Burgfriede. Erst nach dem Turnier spürt Sing, dass er ausgebootet wird. Er erhält keine Einladung zu offiziellen Empfängen und hört auch sonst kaum etwas aus Deutschland. „Nur der Herberger hat manchmal angerufen. Und der Fritz Walter hat sich regelmäßig gemeldet. Der Fritz, das war ein anständiger Mensch.“

Richtig enttäuscht wird Albert Sing vom DFB jedoch erst Jahre später. Nach seiner Trainerlaufbahn macht ihm Mitte der Siebzigerjahre, Sing ist 58, ein altes Kriegsleiden zu schaffen. Sing will gerichtlich seinen Anspruch aus der Kriegsopferversorgung geltend machen. „Es ist mir nicht schlecht gegangen. Aber man hat natürlich im Fußball damals nicht so gut verdient wie heute.“ Das Gericht weist die Ansprüche zurück. Entscheidend, sagt Sing, sei eine Erklärung des DFB gewesen, er habe nicht auf Grund seines Kriegsleidens im Profifußball keine Chance mehr auf eine Anstellung gehabt. „So ein Unsinn“, schimpft der alte Mann. „Ich war Nationalspieler. Ich habe 1954 alles gemacht, gratis. Danach war ich als Trainer erfolgreich. Und dann so was!“

Gelegentlich kriegt Albert Sing Post aus Deutschland. Sammler wollen von ihm ein Autogramm. Nicht aber als Herbergers Assistent und Helfer, sondern als Schütze des 500. deutschen Auswahltores. Es war Sings einziges Tor als Nationalspieler. Es war ein Tor gegen Ungarn.

Markus Wiegand

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