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Olympische Sommerspiele 2008

© AFP

Matthias Steiner: Die eigene Last gehoben

Keine andere Geschichte hat den Sport in diesem Jahr so bewegt: Gewichtheber Matthias Steiner trauert nach dem Olympiasieg öffentlich um seine Frau. Heute sagt er, er habe das für sich getan. Ein Treffen mit Matthias Steiner.

Von Katrin Schulze

Der Schweiß glitzert. Selbst in dem schwachen Lichtkegel, der auf ihn fällt, schimmert er fast aufdringlich hell. Und kaum haben die glitzernden Perlen ein kleines Ensemble geformt, lösen sie sich auch schon wieder in ihre Einzelteile auf. Jedes einzelne Kügelchen bahnt sich seinen Weg von der Stirn hinab – ein paar erreichen das Kinn, die anderen bleiben im Bart hängen. Matthias Steiner wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Dass er jetzt schwitzt, liegt nicht nur an der warmen Temperatur hier im Raum. Seine Augenlider zucken nervös im Takt. Wenn sie doch mal einen Blick auf die dunkelgrünen, schmalen Augen freigeben, erlauben sie einen Blick auf sein Innenleben, das er sonst hinter einer solide aufgebauten Fassade verbirgt. Die Augen verraten ihn und übernehmen ungewollt die Funktion seines Mundes. Umgeben von einem Schleier erzählen sie eine Geschichte von Wehmut und viel Wut.

Wenn Matthias Steiner über Tod und Trauerbewältigung redet, erlebt er noch einmal den schlimmsten Augenblick seines Lebens. Den Moment, an dem er erfährt, dass seine Frau nicht mehr am Leben ist. Am 16. Juli 2007 wird sie bei einem Verkehrsunfall das Opfer eines Rasers, drei Stunden später erliegt sie im Krankenhaus den Verletzungen. Es ist der Tag, an dem die heile Welt des 26 Jahre alten Gewichthebers zusammenbricht.

Seitdem gibt es für Steiner ein Leben vor und ein Leben nach dem 16. Juli 2007.

Das Leben davor lässt seine Augen funkeln. Mit einem offenen Gesicht erzählt er die „lustige Geschichte“ des Kennenlernens seiner Frau. Das war irgendwann im Jahr 2004. Sie will sich auf Eurosport ein Tennisturnier ansehen, bleibt aber beim Gewichtheben hängen und ist damals so fasziniert von Steiners Auftritt, dass sie sofort Kontakt per E-Mail aufnimmt. Briefe und Telefonate folgen. Bald sitzt sie im Zug von Chemnitz nach Obersulz in Niederösterreich. Es geht schnell. Aus Liebe zu ihr entscheidet sich Steiner, die Nationalität zu wechseln und in die Nähe von Chemnitz zu ziehen. Im Dezember 2005 heiraten sie. Das ist nicht nur eine lustige, sondern auch eine glückliche, ja beinahe kitschige Geschichte. Bis zum 16. Juli 2007, als Susann Steiner stirbt.

Welche Gefühle der Verlust eines geliebten Menschen in jemandem auslöst, kann Matthias Steiner kaum in Worte kleiden. Jetzt wird sein Gesicht ernst und verschlossen. Er öffnet den Mund und will es trotzdem versuchen. Pause. Wieder eine Schweißperle. Zwei, drei, vier. „Es kommt einem alles so nutzlos vor“, stammelt er. Kurze Pause. „Und oft stellst du dir die Frage nach dem Sinn des Lebens.“

Leben. Das war für ihn nach dem Tod der Frau nicht viel mehr als ein sarkastisches Wort. „Da hätte ein Blitz neben mir einschlagen können. Es wäre mir egal gewesen“, sagt Steiner. Mehr als eine Woche will der gebürtige Österreicher nichts essen. Für einen Gewichtheber, dessen Portionen sonst kaum groß genug sein können, ist das wie die Vorstufe zur Magersucht. Es ist Steiners Körper, sein Kapital, den er jetzt büßen lässt für seine Trauer. Abgesehen von einigen Schluck Wasser gibt er ihm in diesen Tagen – nichts. Magersucht therapiert man irgendwann. Auch zur Verarbeitung eines Todesfalls schlagen Experten eine Psychotherapie vor. Und Matthias Steiner, was macht er?

Jedenfalls keine Therapie. Er stützt sein angewinkeltes, linkes Bein auf das rechte und rutscht ein paar Mal auf dem Sofa hin und her – still zu sitzen ist genauso wenig sein Ding wie Besuche bei Therapeuten. „Davon halte ich nun mal gar nichts“, erzählt er. „Da machst du mit fremden Menschen Termine aus, zu denen du gehen sollst. Aber was ist, wenn es dir schlecht geht und du gerade keine Sitzung hast? Dann fällst du noch tiefer.“ Wenn Matthias Steiner das sagt, klingt es so, als hätte er sich diesen Schritt genau überlegt. Und doch war es eine intuitive Entscheidung, sich Hilfe bei Freunden zu suchen und mit ihnen über seine Trauer zu reden. Stundenlang, manchmal die ganze Nacht.

Immer wieder stellt er dabei dieselben quälenden Fragen: Warum sie? Warum wir? Es ist diese brutale Ungerechtigkeit, die das Geschehene für ihn so schwer erträglich macht. Später wundert er sich, warum alle weiterleben, als wäre alles normal. Als eine Freundin ihn irgendwann fragt, wie lange er sich noch selbst bemitleiden will, versteht er das zunächst nicht. „Dein Leben geht weiter“, sagt sie und irgendwann, ganz langsam, Tag für Tag mehr, ergibt diese Botschaft für ihn Sinn.

Auf der Suche nach einem Medikament gegen die Trauer wird Steiner fündig. Nachdem er es nach dem Tod seiner Frau vollkommen abgesetzt hat, erhöht er die Dosis. Die Dosis an Sport. Er trainiert wieder und beginnt zu begreifen, dass er seine Kollegen vom Chemnitzer AC nicht hängen lassen kann, denn er ist ja das „Zugpferd“ des Vereins. „Mein Sport half mir mehr als alles andere, weil er mir klare Ziele vorgibt“, sagt Steiner heute. „An den Gewichten konnte ich mich aufrichten. Es ist meine Art von Therapie.“ Und eine überaus erfolgreiche hinzu. Als Matthias Steiner bei den Olympischen Spielen in Peking, gut ein Jahr nach dem Tod seiner Frau, die Goldmedaille im Superschwergewicht holt, ist er erst einmal geheilt. „Es hört sich komisch an, aber die Leere war auf einmal größtenteils weg.“

Steiner entscheidet sich, seine Therapie öffentlich abzuhalten, indem er bei der Siegerehrung neben der Medaille auch ein Foto seiner verstorbenen Frau hoch hält. Damit befeuert der 26-Jährige seine Popularität auf eine Weise, die „ich in diesem Maße niemals vorgesehen hatte“. Er wird durch seine anrührende Geste auf dem Podest in Peking zum „Gesicht der Spiele“, wie er selbst sagt. Ständig muss er nun seine Geschichte erzählen, obwohl er nicht immer Lust dazu hat. Manchmal fällt sie deshalb kurz und emotionslos aus, denn „es gibt einfach Tage, an denen ich das nicht kann“. Dass sich der Gewichtheber trotzdem immer wieder zu einem Gespräch überreden lässt, liegt zum einen einfach daran, dass es ihm schwer fällt, Nein zu sagen, zum anderen will er anderen Menschen, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist, helfen und ihnen einen Ausweg aufzeigen.

Die öffentliche Bühne ist für ihn nach dem Olympiasieg untrennbar verbunden mit seiner Trauerbewältigung, auch wenn das nicht jeder verstehen will. Bei dem Vorwurf, er würde sein Schicksal vermarkten, winkt Steiner ab. „Jeder muss doch seinen eigenen Weg finden, mit so einem Schlag umzugehen“, sagt er. „Die große Anteilnahme zeigt mir, dass ich das Richtige tue.“ Auf der Straße wird er plötzlich von fremden Menschen angesprochen, manche umarmen ihn einfach.

Seine Offenheit kommt an: Immer wieder erhält Steiner Einladungen und Ehrungen, zuletzt als Sportler des Jahres. Zeit zum Luftholen hat er seit den Olympischen Spielen kaum, nur noch zum Wäschewaschen fährt er jetzt nach Hause, wo vieles noch so ist wie früher. Doch der Trubel um seine Person hat auch Nebenwirkungen – noch ist er beschäftigt und kann sich damit ablenken.

Wenn er, wie jetzt zu Weihnachten, mal zur Ruhe kommt, hat er Zeit zum Nachdenken. Was für andere Menschen heilend ist, wirkt auf Matthias Steiner wie eine Bedrohung. Als das Thema aufkommt, kann er seine Nervosität wieder nur schwer verbergen – wieder siegt der Schweiß über seine Abgeklärtheit. „Wenn ich mal einen Augenblick runterkomme, erleide ich oft einen Rückschlag“, gesteht er. Dann zeigen sie sich kurz, um irgendwann wieder zu verschwinden wie Ungeziefer in den Ecken, die Trauerattacken, diese elenden Fragen nach dem Warum.

Es ist diese Frage, die ihn beim Prozess um den tödlichen Unfall seiner Ehefrau im Dezember veranlasst, als Nebenkläger aufzutreten. Dass der angeklagte Raser vor Gericht wegen fahrlässiger Tötung zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt wird, ist für Steiner nebensächlich. Es gehe ihm nicht um Genugtuung, sagt er. „Für mich ist es wichtig, die Wahrheit zu kennen. Bisher weiß ich nur, was geschehen ist, aber ich weiß nicht, warum.“ Da ist es wieder. Das Warum. Wenn der Gewichtheber redet, fällt dieses Wort oft.

Trotzdem. Er hat sich mehr im Griff als noch vor einem Jahr, findet er selbst. Denn mittlerweile kann Steiner auch Positives aus seinem Schicksal ziehen: sein Umgang mit Geld, zum Beispiel. In seinem früheren Leben, das vor dem 16. Juli 2007, sparte er viel, war sehr genügsam, um im Alter sorgenfrei zu sein. Jetzt rechnet Steiner weniger, da „ich den Sinn darin nicht mehr sehe“. Er gönnt sich nun gerne etwas, weiß die Vorzüge des Lebens zu schätzen.

In seinem neuen Leben findet der Gewichtheber auch wieder Gefallen an Frauen, denn mit seinem Olympiasieg lernte er etwas kennen, das er selbst mit der Ausstrahlung von „mächtigen und einflussreichen Männern“ vergleicht: den Sexappeal einer Goldmedaille. Er wird umgarnt von Frauen; dieses neue Gefühl schmeichelt ihm sichtlich. „Ich genieße die Anwesenheit und das Interesse von Frauen enorm“, gibt Steiner zu. „Aber irgendwann merke ich, sie sind nicht wie Susi. Aber das geht ja auch gar nicht.“

Die Nachdenklichkeit hat ihn nun wieder fest im Griff. Wieder spiegeln die dunkelgrünen Augen einen Teil seines Innersten wider, als sie sich in dem weiten Nachthimmel verlieren, der sich draußen bedrohlich breit gemacht hat. Er lässt seinen Blick schweifen und macht sich Gedanken um seine Zukunft und darüber, ob er noch einmal so glücklich sein kann wie mit seiner Ehefrau. „Ich weiß es nicht“, sagt Matthias Steiner.

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