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Bei der WM 1990 in Italien begeisterte die jugoslawische Mannschaft noch, zwei Jahre später was sie Geschichte.

© IMAGO / Sven Simon

Die letzte Mannschaft Jugoslawiens: Aus der Traum vom gemeinsamen Titel

Sie fuhren nach Schweden, um Europameister zu werden. Doch der Krieg beendete alle Hoffnungen des besten jugoslawischen Teams aller Zeiten.

So also muss alles enden: in der Abflughalle des Stockholmer Flughafens Arlanda. Gut zwanzig Männer in blauen Trainingsanzügen warten darauf, dass eine Maschine der jugoslawischen Fluggesellschaft JAT sie zurück in die Heimat bringt. Aber was heißt das schon, Heimat, in dunklen Zeiten wie diesen. Es ist der 3. Juni 1992.

Eigentlich sind sie hierher gekommen, um Europameister zu werden. Die beste Mannschaft, die Jugoslawien je hatte. Zwei Jahre zuvor waren sie bei der Weltmeisterschaft in Italien nur am argentinischen Elfmetertöter Sergio Goycochea gescheitert. Hatten danach eine blitzsaubere Qualifikation gespielt und vor den hoch eingeschätzten Dänen die Gruppe gewonnen.

Ach ja, und Roter Stern, ihr stärkstes Vereinsteam, hatte 1991 den Europapokal der Landesmeister nach Belgrad geholt. Talent und Erfahrung im idealen Mischungsverhältnis: Das ist der Stoff, aus dem Turnierfavoriten gemacht werden.

Eine Mannschaft aus ganz Jugoslawien

Doch die Männer am Stockholmer Flughafen wissen längst, dass alles anders gekommen ist. Das Land, für das sie antreten wollten, ist zerfallen. Die große Mannschaft, die zu den schönsten Hoffnungen Anlass gab, existiert nur noch in Spurenelementen. Und selbst die, die übriggeblieben sind, werden bei diesem Turnier nicht dabei sein, sondern nach Hause fahren. Wie hat es nur soweit kommen können?

Dejan Savicevic, einer der großen Stars jener Zeit, sagt in dem Dokumentarfilm „The Last Yugoslavian Team“: „Ich wurde als Jugoslawe erzogen, und wenn die Leute mehr an das Land, an die Einheit gedacht hätten, wäre das nie passiert. Die Frage, ob du Serbe, Montenegriner, Bosnier oder Kroate bist, ist unsere große Tragödie.“

Schon als Nationaltrainer Ivica Osim 1986 sein Amt antritt, brodelt es im Land. Staatsgründer Tito ist seit sechs Jahren tot, seither fehlt ein Anführer, der für die nationale Einheit sorgt. Nationalistische Stimmen werden in allen Teilrepubliken immer lauter, vor allem in Kroatien fühlen sich viele von der serbischen Dominanz unterdrückt

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Auf Ivica Osims Arbeit hat das zunächst nur bedingt Einfluss. Die Mannschaft, die er übernimmt, kommt aus allen Teilen des Landes. Viele Spieler sind miteinander befreundet, weil sie schon jahrelang in den Nachwuchsauswahlen Jugoslawiens zusammengespielt haben. Nationale, ethnische oder gar religiöse Ressentiments gibt es nicht.

Außerhalb ist die Stimmung dagegen weniger harmonisch. Der Tonfall in der Politik und in den Medien wird immer martialischer, vor allem die Schreiber aus Zagreb und Belgrad sind einander spinnefeind, auch in der Sportberichterstattung. „Die kroatischen Journalisten protegierten kroatische Spieler, die serbischen forderten, dass ihre Landsleute immer spielen müssten“, sagt Osim. „Es wurde überhaupt nicht mehr in Betracht gezogen, dass sie auch zusammenspielen könnten.“

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Der Krieg beginnt mit einem Fußballspiel

In der Mannschaft bleibt es ruhig, nicht aber auf den Rängen, und am 13.Mai 1990 eskaliert die Situation. Schon vor dem Anpfiff des Prestigeduells zwischen Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad kommt es zu schweren Ausschreitungen. Belgrader Hooligans zerlegen ihren Block im Maksimir-Stadion, ohne dass die Polizei etwas dagegen unternimmt.

Für die kroatischen Anhänger keine Überraschung, sehen sie in den Beamten ohnehin nur Handlanger des Belgrader Regimes. Erst als sie, vor allem in Gestalt der berüchtigten Fangruppierung Bad Boys Blue, die Sache selbst in die Hand nehmen wollen, schreiten die Sicherheitskräfte mit massiver Gewalt ein. Mittendrin im Getümmel: Zagrebs Nachwuchsstar Zvonimir Boban.

Als er sieht, wie ein Polizist auf einen am Boden liegenden Anhänger seines Teams eindrischt, streckt er den Beamten mit einem Tritt nieder und wird – im Alter von 21 Jahren – zum kroatischen Nationalhelden und Symbol der Auflehnung gegen Belgrad.

Bis heute markiert der 13. Mai 1990 den Tag, an dem der Krieg auf dem Balkan unausweichlich wurde. Bei einem Fußballspiel. Ivica Osim sagt: „Ein Krieg braucht immer einen Auslöser. Meiner Meinung nach war dieser Anlass zu gering. Und dennoch hat alles mit diesen Ausschreitungen begonnen.“

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Was das für seine Arbeit bedeutet, erfährt Osim wenige Wochen später. Anfang 1990 empfängt die jugoslawische Nationalelf die Niederlande in Zagreb zum letzten Test vor der WM. Es wird ein Auswärtsspiel. 20 000 Zuschauer bejubeln Holland und pfeifen die jugoslawische Hymne nieder.

Als sich das Team vor dem Spiel zum Gruppenfoto aufstellt, klatscht Faruk Hadzibegic, ein Bosnier, in die Hände und ruft: „Wir sind elf gegen 20 000. Los geht’s!“ Für Osim auch ein Zeichen des Trotzes: „Das war typisch für diese Mannschaft. Sie wollte zeigen, dass man sie nicht so leicht unter Druck setzen kann, vor allem nicht unter politischen.“

1990 - Ein letztes Hurra

Die Weltmeisterschaft im Jahr 1990 zeigt noch einmal ein anderes Bild des untergehenden Landes. Trotz aller Probleme und der schwierigen wirtschaftlichen Situation begleiten viele jugoslawische Fans ihre Mannschaft nach Italien. Denn auch wenn die Separatisten die Oberhand gewonnen haben, gibt es immer noch Jugoslawen, die „nach dieser Tito-Idee leben“, wie Ivica Osim es nennt. Er selbst gehört dazu.

Die beste Mannschaft Europas: Roter Stern Belgrad gewinnt in Bari den Europapokal der Landesmeister.
Die beste Mannschaft Europas: Roter Stern Belgrad gewinnt in Bari den Europapokal der Landesmeister.

© IMAGO / WEREK

Nach dem Achtelfinalsieg gegen Spanien, durch zwei Tore des Serben Dragan Stojkovic, skandieren die Menschen auf den Straßen Sarajewos „Jugoslawien!“-Sprechchöre. „Viele gingen so weit zu sagen, diese Mannschaft könnte Jugoslawien retten“, sagt Osim. „Aber wie hätten wir das schaffen können? Da hätten wir schon Weltmeister werden müssen.“ Doch im Viertelfinale ist gegen Titelverteidiger Argentinien Endstation im Elfmeterschießen.

Danach wird für den Nationaltrainer die Arbeit immer schwieriger. Auch weil Zvonimir Boban nach sechs Monaten Sperre zurück ist, wird der Ton in den Medien noch einmal hitziger. Ivica Osim fängt an, sich auf Pressekonferenzen vorzubereiten, wägt genau ab, was er sagen kann und was nicht. Auch die Spieler sensibilisiert er und versucht ihnen ein Gespür dafür zu vermitteln, welche Resonanz ihre Worte haben können.

Doch zunächst steckt die Mannschaft die Unruhe weg, die von außen hereingetragen wird. Die Freundschaften, die es seit Jahren gibt, haben Bestand, die Nationalelf bleibt, was das Land nicht mehr ist: eine Einheit.

Einer allerdings wirft das Handtuch. Srecko Katanec, der slowenische Abwehrrecke, greift wenige Monate nach dem Turnier in Italien zum Telefonhörer und erklärt dem Trainer seinen Rücktritt. Man hat ihn, weil er weiter für Jugoslawien spielt, in Ljubljana auf offener Straße bespuckt.

Die Saison 1990/91 wird die letzte des jugoslawischen Fußballs. Roter Stern gewinnt den Europacup, verliert aber in einem aufgeheizten nationalen Pokalfinale gegen Hajduk Split mit 0:1. Die Kroaten nehmen die Trophäe, eigentlich Eigentum des jugoslawischen Verbandes, mit nach Hause und behalten sie – bis heute.

In der folgenden Spielzeit starten Slowenien und Kroatien eine eigene Meisterschaft. Der Krieg rückt immer näher, der jugoslawische Fußball blutet aus. Wer noch auf dem Balkan spielt, verlässt das Land. Milan, Inter, Real Madrid, FC Sevilla, AS Rom: Die Mannschaft und ihre Stars verstreuen sich über ganz Europa.

Land und Mannschaft bröckeln auseinander

Im August 1991 kommt von den Kroaten nur noch Torwart Tomislav Ivkovic zur jugoslawischen Nationalmannschaft – und auch er nur, um sich persönlich von Ivica Osim zu verabschieden. Welche Ausmaße der Druck auf die Spieler annehmen kann, wird am Beispiel des Mittelfeldstars Robert Prosinecki deutlich.

Seine Mutter ist Serbin, der Vater Kroate. Er fürchtet um das Wohl seiner Eltern, egal, in welche Richtung er sich äußert, und schweigt. Wie richtig er damit liegt, erfährt er, als er eines Tages die Zeitung aufschlägt. „Robbi, die Kugel wartet auf dich“, warnt ihn dort ein Angehöriger der kroatischen Armee für den Fall, dass Prosinecki noch einmal für Jugoslawien auflaufen sollte.

An eine Teilnahme bei der Europameisterschaft in Schweden glaubt trotz der erfolgreichen Qualifikation schon zum Jahreswechsel 1991/92 kaum noch jemand. Zu deutlich ist der Vorstoß von Seiten des europäischen Fußballverbandes. Uefa-Präsident Lennart Johansson sagt, eine Teilnahme des Landes sei angesichts der politischen Zustände schwer vorstellbar.

Dennoch bereitet Ivica Osim das, was von der Mannschaft übriggeblieben ist, auf ein Turnier vor, an dem sie nicht teilnehmen wird. Die Situation wird immer absurder. Weil die Fußballfunktionäre sich zu keiner eigenständigen Entscheidung durchringen können und auf die Politik warten, fliegt das Team tatsächlich nach Schweden. Vielleicht passiert ja in letzter Minute noch was, vielleicht dürfen sie doch mitmachen. Eine ganz vage Hoffnung war das.

Ivica Osim indes fliegt nicht mit. Kurz vor der Abreise schließt die serbische Armee seine Heimatstadt Sarajevo ein, wo sich seine Frau und Tochter befinden. Am 22. Mai 1992 kapituliert der Trainer vor dem ganzen Irrsinn. Er fährt zum Belgrader Flughafen, verabschiedet sich von der Mannschaft und wünscht ihr viel Glück, wobei auch immer.

Embargo gegen Jugoslawien, Dänemark rückt nach

Acht Tage später, am 30. Mai, kommt das Aus in Form der UN-Resolution 757. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschließt ein weitreichendes Embargo gegen Jugoslawien, das auch sämtliche Sportveranstaltungen umfasst. Die Elf, die ein nicht mehr existentes Land bei der Europameisterschaft vertreten sollte, wird zehn Tage vor dem Beginn des Turniers in Schweden ausgeschlossen. Dänemark, an sich nur Zweiter in Jugoslawiens Qualifikationsgruppe, rückt dafür nach.

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Derweil sind die jugoslawischen Spieler mit den Nerven am Ende. Zum einen empfinden sie den Ausschluss als Ungerechtigkeit, zum anderen haben sie im schwedischen Vorbereitungscamp schon vorher einiges durchgemacht, von Drohanrufen bis zu eingeworfenen Fensterscheiben.

Nun haben sie 48 Stunden Zeit, um das Land zu verlassen – was sich in der Praxis als gar nicht so einfach herausstellt, denn das Embargo bezieht sich auch auf den Transport von ausreisepflichtigen Fußballern. Tagelang hängen die Spieler apathisch im Hotel herum, im wahrsten Sinne des Wortes entwurzelt. Dann endlich kommt das Signal zum Aufbruch.

So endet der Traum der jugoslawischen Mannschaft vom Europameistertitel am Stockholmer Flughafen – auch das freilich nicht ohne Hindernisse. Dragan Stojkovic haben die Ereignisse so sehr mitgenommen, dass er zwischendurch in eine Toilette stürmt und sich erbricht.

Und als die Spieler endlich im Flieger sitzen, weigert sich der britische Ölkonzern BP, das Flugzeug zu betanken. Nach stundenlangem Nervenkrieg springt letztlich eine norwegische Ölfirma ein. Dann hebt die Maschine ab und bringt die Fußballer in eine ungewisse Zukunft.

23 Tage später wird das für Jugoslawien eingesprungene Team Dänemarks durch ein 2:0 im Endspiel gegen Deutschland Europameister.

Jens Kirschneck, Fabian Jonas

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