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Sport: Die neue Angst der Neureichen

In Brasilien haben Entführungen Tradition – aber jetzt trifft es auch Angehörige von Fußball-Stars

Am vergangenen Freitagmorgen verließ Sandra Helena Clemente ihre Wohnung in Campinas. Es war kurz nach acht Uhr. Campinas, eine der zahlreichen brasilianischen Industriestädte, liegt 100 Kilometer von Sao Paulo entfernt. Wie üblich schaute Clemente bei ihrer Stiefmutter vorbei, die gleich um die Ecke lebt. Was nach dem Kurzbesuch geschah, haben brasilianische Medien wie folgt konstruiert: Als die 45-jährige Frau das Haus der Stiefmutter verlässt, fährt ein schwarzer Wagen mit abgedunkelten Scheiben vor, aus dem zwei bewaffnete Männer springen. Sie stoßen die wehrlose Frau ins Auto und rasen davon. Sandra Helena Clemente ist die Mutter des brasilianischen Fußball-Nationalspielers Luis Fabiano, der im vorigen Sommer vom FC Sao Paulo zum Champions-League-Sieger FC Porto nach Europa gewechselt ist. Und sie ist mittlerweile das dritte Entführungsopfer innerhalb von nur vier Monaten aus der Familie eines Fußballers. In Brasilien hat die Entführungsmafia lange Tradition. Dass der Fußball davon betroffen ist, ist neu. Und hat wohl Methode.

Beobachtet wurde die Entführungsszene von einem Bauarbeiter, der in unmittelbarer Nähe arbeitete und die Polizei verständigte. Wie in unzähligen ähnlichen Fällen in Brasilien übernahm eine auf Entführungen spezialisierte Einheit (Deas) den Fall und verhängte eine Informationssperre, um das Leben des Entführungsopfers und die laufenden Ermittlungen nicht zu gefährden. Polizeikommissar Edson Aidar bestätigte lediglich die Identität des Opfers.

Nur drei Wochen zuvor, am 23. Februar, war die Mutter des Angreifers Grafite entführt worden. Nach dem Weggang von Luis Fabiano hatte Grafite dessen Mittelstürmerposition beim FC Sao Paulo, dem aktuellen Spitzenreiter der Regionalmeisterschaft, übernommen. Die 51-jährige Ilma de Castro Libanio war vor den Augen ihres Mannes und ihres jüngsten Sohnes aus ihrer Wohnung heraus von drei vermummten Männern verschleppt worden. Doch die Polizei hatte Glück. Innerhalb von nur 24 Stunden konnte die Tat aufgrund eines glücklichen Zufalls gelöst und Libanio aus der Gefangenschaft befreit werden. Polizeieinheiten waren während einer Routinedurchsuchung zu einem anderen Fall auf das Versteck der Mutter von Grafite gestoßen.

Zuvor wiederum dauerte die Entführung der Mutter des Fußballstars Robinho 41 Tage und bewegte am Ende des vergangenen Jahres ganz Brasilien. Am 6. November 2004 wurde die 43-jährige Marina de Souza während eines Festes von zwei bewaffneten Männern entführt. Robinho, 2002 erstmals landesweit mit seinen beeindruckenden Ballfertigkeiten beim FC Santos aufgefallen, war 2004 der sportliche Durchbruch gelungen. Der damals 21-jährige Nationalspieler, der immer wieder mit der Fußballlegende Pelé verglichen wird, war von europäischen Vereinen mit Millionenofferten umworben worden. Bis zur Lösung des Entführungsfalles spielte Robinho nun gar keinen Fußball mehr.

Erst als die Familie das Lösegeld in Höhe von umgerechnet 60 000 Euro bezahlt hatte, wurde Robinhos Mutter freigelassen. Das war am 17. Dezember, nur zwei Tage vor dem letzten Spieltag der brasilianischen Meisterschaft. Robinhos damaliger Trainer Vanderlei Luxemburgo (jetzt Real Madrid) stellte seinen Stürmer für die entscheidende Partie trotzdem auf. Robinho sicherte dem FC Santos den zweiten Meistertitel nach 2002 und wurde danach zum besten Spieler der Saison gewählt.

Zwar gelang der Polizei im Fall von Robinho und von Grafite die Festnahme von geständigen Mittätern, dennoch sind die beiden Entführungsfälle noch nicht endgültig aufgeklärt. Die Suche nach den Hintermännern dauert weiter an. Eine heiße Spur führt zu Célio Marcelo da Silva, bekannt unter dem zynisch anmutenden Spitznamen „Bin Laden“. Da Silva, bereits mehrfach wegen Raub, Mord und Entführungen verurteilt, war 2003 aus dem Bundesgefängnis geflohen und gilt als Drahtzieher im Entführungsfall von Robinhos Mutter. Er ist ebenfalls tatverdächtig im Falle der Mutter von Grafite. Auch die aktuelle Entführung von Luis Fabianos Mutter könnte auf sein Konto gehen.

Im vergangenen Jahr waren nach offiziellen Angaben mehr als 90 Entführungen allein im Bundesstaat Sao Paulo registriert worden, die Dunkelziffer dürfte sogar noch weit höher liegen. Das zeigt, wie gravierend das Sicherheitsproblem in der mit Abstand reichsten Region in Brasilien ist. Dass das lukrative Entführungsgeschäft in und um Sao Paulo nun auch im Fußballgeschäft angekommen ist, könnte mit einem anderen neuen Trend zu tun haben. Seit Ende des letzten Jahres gibt es neue, potente Fußball-Investoren im Raum Sao Paulo. Vor allem der brasilianische Spitzenklub Corinthians entwickelt sich zu einer Art FC Chelsea Brasiliens. Neuerdings muss der Klub seine Stars nicht mehr an die reicheren Klubs in Europa verkaufen, wie es üblich ist in Südamerika. Er kauft selbst. Viel in Argentinien, aber vor allem wird versucht, eigene Weltklassespieler, die bereits in Europa spielen, zurückzuholen. Die Millionen für diese spektakulären Käufe kommen von einer Sportagentur, die von dem Iraner Kia Joorabchian vertreten wird. Auch der Name des russischen Millionärs Boris Berezowski fällt immer wieder, wenn es um mögliche Hintermänner geht. Die Stars und ihre Familien könnten potenzielle Entführungsopfer sein, weil bei ihnen inzwischen viel Geld zu holen ist und finanzstarke Verantwortliche hinter ihnen stehen.

Fest steht, dass die Angehörigen der Fußballstars bisher in Brasilien kaum geschützt sind. Auch Vorsichtsmaßnahmen wie der Umzug der Familien in bessere Wohngegenden helfen nur wenig, wie der Fall von Luis Fabianos Mutter zeigt. 2004 hatte der Angreifer für seine Mutter eine neue Wohnung in einem Mittelklassestadteil von Campinas gekauft – dort wurde sie nun gekidnappt. Die Spielergewerkschaft hat inzwischen reagiert und den Fußballern der Spitzenklubs eine geheime Liste mit Verhaltensregeln für sich und ihre Angehörigen zugeschickt. Für die Mutter von Luis Fabiano kommen die Ratschläge zu spät.

Frank Kohl[Rio de Janeiro]

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