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Die Hitze von Olympia. Gut zwei Wochen hat das olympische Feuer in London gebrannt. Am Sonntagabend wird es erlöschen.

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Die Spiele im Fazit: London und Olympia: Feuer und Flamme

Wenn Peking die Spiele der kühlen Perfektion waren, feierte London die Spiele der Menschlichkeit. Eine Bilanz der Olympischen Spiele, die gezeigt haben, dass sich dieses gigantische Spektakel auch ganz leicht anfühlen kann.

Ali Kamé hat sich zu früh auf den Weg gemacht, er ist aus dem Startblock auf die Laufbahn gesprungen, aber ein zweiter Knall holt ihn wieder zurück – Fehlstart. Kamé ist 28, kommt aus Madagaskar, es sind seine ersten Olympischen Spiele. Eigentlich ist er Zehnkämpfer, in London will er 110 Meter Hürden laufen, von allen Startern bringt er die zweitlangsamste Bestzeit mit. Vor ihm baut sich ein Schiedsrichter auf und zeigt ihm mit ausgestrecktem Arm die Rote Karte. Kamé muss zurück in die Katakomben, er darf nicht Richtung Ziel, wo alle Athleten erwartet werden von Kameras und Reportern. Er geht, als ob er nie da gewesen wäre. Auf der Ergebnisliste dieses Vorlaufs wird hinter seinem Namen ein hässliches DQ stehen für Disqualified.

Das Publikum aber lässt ihn nicht einfach so ziehen. Es nimmt die Hände, um ihn zu verabschieden. Olympia ist für Kamé vorbei, das ja, aber fürs Sich-auf-London-Vorbereiten und fürs Nach-London-Kommen klatschten jetzt Zehntausende, es hört sich an wie ein warmer, prasselnder Sommerregen. Es gab einmal ein Motto, dass Dabeisein alles sei, und vielleicht wird Ali Kamé auch davon erzählen, wenn er zu Hause nach den Olympischen Spielen in London gefragt wird.

Bildergalerie: London im Olympiafieber:

London sollte die Olympischen Spiele wieder an die Menschen heranholen und begreiflich machen, sie waren vor vier Jahren in Peking weit entrückt. Durch die Perfektion der Ausrichter. Durch die Politik und Propaganda der Chinesen. Durch ein Publikum, das dem Sport manchmal fragend gegenüberstand. Und durch Athleten wie Michael Phelps und Usain Bolt, deren Leistungen übermenschlich erschienen, Phelps erschwamm sich achtmal Gold, Bolt rannte dreimal Weltrekord.

Also kam Olympia zum dritten Mal nach England, wo Sportarten erfunden wurden, Regeln dafür geschrieben und der Sportsgeist geboren wurde. Dieser Sportsgeist steht in London früh auf. Er will dabei sein, wenn es ums Dabeisein geht, wenn Athleten wie Ali Kamé ihren ersten olympischen Start erleben.

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Es gab schon schönere Olympiastadien als das Stratford Stadium im Osten Londons, außen hängen Stoffbahnen dreieckig herunter, es sieht nach Backgammon aus, und die pyramidenförmigen Flutlichter erinnern an Weihnachten. Wenn Olympia und auch die Paralympics vorbei sind, wird das Stadion zurückgebaut, ganz praktisch, London hat genügend große Stadien. Zurückbleiben wird die Erinnerung, dass hier einmal ein Publikum die Olympischen Spiele gefeiert hat mit allem, was zu ihnen gehört, mit Weltrekorden, mit Siegern, mit Dabeigewesenen, mit Gescheiterten und mit Fehlern.

Bevor es losgeht, zählt das Publikum einen Countdown herunter, und als der erste Wettbewerb beginnt, ist das Stadion gefüllt, 80 000 Plätze, vom ersten Tag der Leichtathletik an, zur Qualifikation von David Storl aus Chemnitz und den anderen Kugelstoßern. Auch einen Tag später wundert sich Storl noch darüber, was passiert ist, dass er die Silbermedaille gewonnen hat, aber auch, dass das Stadion schon in der Qualifikation voll war. „Das habe ich noch nie erlebt.“ Die Kugelstoßer gehören nicht zu den Stars der Leichtathletik.

Als die Spiele beginnen, sind auf Fernsehbildern der BBC in einigen Arenen leere Sitze zu sehen. Die Londoner schreien auf, es sind doch ihre Spiele, und als herauskommt, dass manche Sponsoren und Sportverbände einfach ihre Plätze nicht genutzt haben, da hat Olympia den ersten Skandal. Das Organisationskomitee reagiert, auf einmal sind wieder Karten im Umlauf, und zwei Tage später sind die Arenen voll. Das hat es noch nie gegeben bei Olympischen Spielen. 15 000 sitzen auf den Tribünen der Horse Guards Parade, wo Beachvolleyball Party feiert, direkt neben dem Außenministerium und Downing Street Nummer zehn. 30 000 Zuschauer kommen zur Regattastrecke auf dem Dorney Lake in Eton zu Ruderern und Kanufahrern, eine Stunde Fahrt vor den Toren der Stadt. Zehntausende füllen das Messezentrum Excel, das bei diesen Spielen die Heimat des Duells ist, im Judo, Fechten, Ringen, Boxen, Taekwondo, für den Zweikampf mit Schläger und Ball beim Tischtennis und dem zwischen Athlet und Hantel beim Gewichtheben.

Zum ersten Mal sind Frauen aus allen Ländern dabei

Auf dem Weg ins Excel lässt sich schon in der Bahnfahrt durch die alten Docklands erahnen, wer heute Chancen auf die Goldmedaillen hat, man braucht nur die Fahnen zu zählen, die sich die Zuschauer umgehängt haben oder auf die Wangen gepinselt oder einfach auf ihrem T-Shirt tragen, mal stehen die großen Tage der Chinesen an beim Tischtennis, die der Japaner beim Judo, die der Franzosen und Italiener beim Fechten oder die der Iraner beim Gewichtheben. Und überall fährt der Union Jack mit, mit dem die Briten auf den Tribünen ihre Athleten anfeuern. Die Welt wohnt auch sonst in dieser multiethnischen Metropole, aber jetzt kommt sie noch einmal als Gast und bringt noch mehr Farben mit.

Die besten Sprüche der Olympischen Spiele:

Im Excel versammeln sich die Zuschauer auf Stahlrohrtribünen, manchmal sitzt ein kleiner Fanblock zusammen, ein anderes Mal verteilen sich alle Länder bunt durch die Reihen. Es gibt besondere Momente, da sind sich alle einig, etwa als Wojdan Shaherkani aufgerufen wird und zu ihrem Judokampf Richtung Matte läuft. Sie ist die erste Teilnehmerin aus Saudi-Arabien bei Olympia, und vor diesem Moment gab es lange Verhandlungen. Damit sie nach London kommen darf. Damit sie kämpfen darf. Im Judo ist eine Kopfbedeckung verboten. In Saudi-Arabien ist Sport für Frauen ohne Kopfbedeckung verboten. Von vielen anderen Dingen ganz zu schweigen, die Frauen dort nicht dürfen. Auf dem Kopf trägt Shaherkani, 16 Jahre alt, nun einen Kompromiss, er sieht aus wie eine Badekappe. Die Zuschauer jubeln so laut wie später nur für die Olympiasiegerin und bringen Shaherkani zu einem Lächeln aus Verlegenheit. Shaherkani hat eine Lücke geschlossen, zum ersten Mal sind Frauen aus allen Ländern mit dabei.

Olympische Spiele sind auch ein Fest der Symbole. Wenn schon die ganze Welt zusammen ist, dann hat vieles weltweite Ausstrahlung, ob daraus auch eine weltweite Wirkung wird, das wird sich erst später zeigen. Shaherkani steht nur 82 Sekunden, dann hat ihre Gegnerin sie auf die Matte geworfen, der Kampf ist aus, aber es sind 82 symbolische Sekunden dafür, dass Olympia offen ist, dass Sport offen sein muss, auch für Frauen. Beim Boxen kämpfen in London erstmals Frauen um Medaillen. Im Zeichensetzen werden diese Olympischen Spiele von London ihre eigenen Olympiasieger.

Peking waren die Spiele der kühlen Perfektion. London feiert Spiele der Menschlichkeit. Es gibt wieder Weltrekorde, aber es gibt auch Fehler, technische und menschliche. Den offenbar technischen Fehler zum Beispiel, als die Uhr im Halbfinale des Degenwettbewerbs der Frauen von einer Sekunde auf null springt. Sie wird noch einmal auf eine Sekunde gestellt, Britta Heidemann aus Leverkusen setzt den entscheidenden Treffer gegen die Südkoreanerin Shin A-Lam und löst damit ein großes Drama aus. Ihre Gegnerin will nicht glauben, dass Heidemann in der letzten Sekunde wirklich getroffen hat und bleibt mehr als eine Stunde weinend auf der Planche sitzen. Die Zuschauer unterstützen sie mit viel Applaus, und obwohl Heidemann formal im Recht zu sein scheint, spürt das Publikum, dass hier irgendetwas nicht ganz fair ist. Im Stadion bei der Leichtathletik folgen weitere Fehler. Im abschließenden 800-Meter-Lauf beim Siebenkampf wird Lilly Schwarzkopf erst disqualifiziert und später doch mit Silber ausgezeichnet. Eine Kampfrichterin hatte sie mit der Russin auf der Bahn neben ihr verwechselt. Beide sind schließlich blond, kann ja mal vorkommen. Auch Hammerwerferin Betty Heidler kann erst mit Verzögerung jubeln, nachdem ein Wurf von ihr nicht richtig gemessen wurde.

Bildergalerie: Die Pannen der Olympia-Organisatoren:

Es passt zu diesen Spielen, dass sich die beiden Superstars von Peking etwas zurückhalten, die Auswüchse ihrer Leistungen stutzen. Phelps gewinnt nur noch halb so viel Gold, Bolt läuft über 100 und 200 Meter keinen Weltrekord. Der olympische Imperativ höher, schneller und stärker macht eine erholsame Pause.

Nach einer Siegerehrung im Gewichtheben laufen auf einmal Irish Guards auf die Bühne mit ihren roten Uniformjacken und den schwarzen Bärenfellmützen. Irish Guards werden im Fernsehen vor allem als Wachen vor Gebäuden gezeigt, manchmal laufen kleine Mädchen vor ihnen auf und ab und versuchen, in die versteinerten Gesichter ein Lächeln zu zaubern. Jetzt kommen die Irish Guards für ein Gruppenfoto auf die Bühne, wo kurz zuvor der Iraner Behdad Salimikordasiabi die Goldmedaille im Superschwergewicht gewonnen hat, 247 Kilogramm stieß er nach oben. Zu den Soldaten stellen sich ein paar Volunteers, die freiwilligen Helfer dieser Spiele in ihren grauen Hosen und rot-violetten Hemden, die ersten Scherze fliegen hin und her, dann nimmt einer der Soldaten seine Fellmütze und setzt sie einem Volunteer auf. Die Mütze macht die Runde wie ein Pokal.

Die Briten im Siegesrausch

Die Olympischen Spiele wollten in London herausfinden, ob sie sich noch leicht anfühlen können nach dem schweren Aufenthalt in Peking. Aber auch die Briten wollten etwas über sich herausfinden, nichts weniger, als wer sie eigentlich sind. Regisseur Danny Boyle hatte dazu ein paar Anstöße gegeben in seiner Eröffnungsfeier, in der er die Queen vom Himmel fallen, das nationale Gesundheitssystem und den Britpop feiern ließ. Wir haben etwas, worum uns die anderen beneiden dürfen, lautete seine Botschaft, sie war selbstbewusst – und doch auch ziemlich inselbezogen.

Die Bilder der Eröffnungsfeier:

Dieses Spiegelbild gefällt den Briten , damit kommen sie wunderbar über die ersten medaillenlosen Wettbewerbe. Dann werden sie jedoch unruhig, Olympische Spiele sind auch zum Siegen da, und Gastgeber zu sein heißt nicht, den Gästen auch beim Gewinnen noch den Vortritt lassen zu müssen. Nach der ersten Goldmedaille können sie auf einmal nicht mehr genug davon bekommen, es gipfelt in einem „Super Saturday“, an dem die Briten sechs Goldmedaillen gewinnen, davon dreimal in einer Stunde bei der Leichtathletik. Im Studio der BBC steht ein Big Ben, dessen Zeiger immer auf die nächste Anzahl von Goldmedaillen verschoben wird, längst hat „Team GB“ mehr Gold gewonnen, als der Tag Stunden hat.

Noch nie war Großbritannien bei Olympia so erfolgreich, seitenweise drucken Zeitungen ihre Hymnen auf die Sieger, an manchen Tagen findet sich keine Geschichte mehr über die ausländische Konkurrenz, nichts ist auf einmal noch normal in London. Im normalen Leben würde ein Brite nicht mehr beim Tennis in Wimbledon gewinnen, die Zeiten sind seit fast 100 Jahren vorbei, Andy Murray hat erst vor gut einem Monat das Finale gegen Roger Federer verloren. Aber es sind Olympische Spiele, in Wimbledon muss nicht mehr Weiß auf dem Rasen getragen werden, und da besiegt Murray Federer 3:0.

Von ihren Siegen sind die Briten so berauscht, dass vor laufender Kamera auf einmal Ruderer bitterlich zu weinen anfangen und sich entschuldigen – sie haben gerade nur Silber gewonnen. Auf jeden Fall haben die Briten ein neues Bild von sich gewonnen, erfolgreich, selbstbewusst, und sie feiern auch die Hilfsbereitschaft ihrer Volunteers, die alles organisieren, die abends den Besuchern vor dem Heimweg zuzwinkern und sie lächelnd fragen „How was your day?“ Viele der Volunteers haben angefangen, Anstecknadeln der Spiele zu sammeln, eine olympische Nebendisziplin, sie stecken nun an den Bändern ihrer Akkreditierungen, bunt und blinkend hängen sie um ihren Hals wie Bürgermeisterketten.

Hinkucker - die besondern Bilder der olympischen Spiele:

An diesem Sonntag ist erst einmal alles vorbei, London wacht langsam aus seinem Rausch auf, als Erstes die Kommentatoren in den seriöseren Zeitungen. Sie fragen, was denn übrig bleibe von diesem Fest, welches Erbe Olympia hinterlasse, und merken kritisch an, dass die Regierung gerade 21 Schulsportanlagen schließen will, dass der Schulsport verkümmere und die Vision des Zusammenlebens vieler Kulturen bei Olympia klappe, sich aber jetzt neu bewähren müsse.

Eine Melancholie erfasst die Spiele an ihren letzten Tagen, selbst Usain Bolt trägt dazu bei, indem er ankündigt, vielleicht 2016 nicht mehr dabei zu sein. Die Olympischen Spiele wandern weiter, erst in den russischen Badeort Sotschi, dann nach Rio de Janeiro, im Winter 2018 nach Pyeongchang in Südkorea und 2020 vielleicht nach Tokio. Es könnten für lange, lange Zeit die letzten Spiele in Westeuropa gewesen sein.

Großbritannien hat sie stellvertretend für das ganze alte Europa ausgerichtet, für Gesellschaften, die ihre Sportförderung überdenken, weil der Staat zu hohe Schulden hat, und die ihre Kinder nicht mehr so wie früher für Sport begeistern können. „Inspire a generation“, hatten sich diese Olympischen Spiele daher vorgenommen, und warum das so wichtig ist, hat ihr Organisationschef Sebastian Coe zum Abschluss noch einmal gesagt: „Wir könnten die erste Generation sein, die fitter ist als ihre Kinder.“

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