zum Hauptinhalt

Sport: Die Stunde null unterm Regenbogen

Die Olympischen Spiele in München, die heute vor 30 Jahren eröffnet wurden, sollten ernst und leicht sein – vor dem Terroranschlag gelang das auch

Von Christopher Young

Guten Tag, Herr Vogel. Sitzen Sie fest auf Ihrem Stuhl?" Der junge Oberbürgermeister von München war Intrigen gewohnt und konnte sich kaum vorstellen, dass ihn ein Gesprächspartner vom Hocker reißt. Sein Besucher an jenem Wintermorgen 1965 war ein Sportfunktionär. Was Willi Daume, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), zu erzählen hatte, war außergewöhnlich. Als Folge ihrer Entscheidung, die deutsche olympische Gemeinsamkeit zugunsten zweier separater Teams zu beenden – der erste Schritt in Richtung voller Anerkennung der DDR auf olympischer Ebene –, zeigte sich das Internationale Olympische Komitee (IOC) bereit, eine westdeutsche Kandidatur für künftige Spiele positiv aufzunehmen. Da Berlin innenpolitisch nicht in Frage kam, obwohl es Daume und dem damaligen Bürgermeister der geteilten Metropole, Willy Brandt, als symbolischer Austragungsort vorschwebte, war München gefragt. Vogel überlegte kurz. Innerhalb von einem Monat hatte er von der Stadt, dem Freistaat Bayern und dem Bund die nötigen Finanzzusagen.

Die Rückkehr der Kriegsverlierer

Im April 1966 fuhren die beiden Macher zur IOC-Sitzung in Rom und holten sich im Wettbewerb gegen Detroit, Madrid und Montreal die Spiele. Zwei Jahre nach den Spielen in Tokio und sechs Jahre nach Rom war das eine weltpolitisch signifikante Reihenfolge. Nachdem die olympische Familie ihre Feste zunächst in den Ländern der Sieger und Neutralen (London 1948, Helsinki 1952, Melbourne 1956) gefeiert hatte, wurden die Kriegsverlierer nun in die Gemeinde zurückgeholt. Das IOC, das sich als quasi-religiöse Friedensorganisation verstand und an dessen Spitze der seit seiner Teilnahme an den Berliner Spielen 1936 deutschlandfreundliche Avery Brundage amtierte, wollte der Bundesrepublik eine Gelegenheit geben, sich als friedliebend auf der Weltbühne darzustellen. Dies war den Organisatoren bewusst. Allein um alle Zuschauer, die die Eröffnungsfeier weltweit im Fernsehen verfolgen würden, persönlich nach Deutschland einzuladen, so die Rechnung im offiziellen Bulletin für ausländische Journalisten, hätte man 34 Jahre gebraucht. Das Potenzial für die nationale Repräsentanz war enorm.

Allerdings auch für die politisch zerstörerische Entfaltung heiß umstrittener Fragen, etwa dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik für alle Deutschen. Als die DDR kurz nach der IOC-Entscheidung auf Konfrontation ging, muss den Westdeutschen die erfolgreiche Kandidatur wie ein Eigentor vorgekommen sein. Sorgen bereitete schon die Tatsache, dass 1968 beide deutschen Mannschaften unter einer olympisch neutralisierten deutschen Flagge (drei Streifen mit fünf olympischen Ringen) aufgetreten waren. Wie könnte die BRD jetzt aber die Spiele im eigenen Lande veranstalten, ohne ihre eigene Fahne hissen zu dürfen? Das Auswärtige Amt befürchtete „weitreichende psychologische Konsequenzen“. Dazu kamen politische Fortschritte in der DDR, die aufgrund ihrer sportlichen Leistungen und der Unterstützung durch die UdSSR langsam gewichtige Argumente für eine Anerkennung seitens des IOC vorbrachte. Die BRD zögerte. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion diskutierte darüber, München für die Zeit der Spiele als Ausland zu deklarieren, während der Innenminister der Großen Koalition die Vatikan-Variante prüfen wollte. Aber all das konnte nichts daran ändern, dass 1972 zum ersten Mal die Staatssymbole der DDR auf bundesdeutschem Boden geduldet werden mussten. So ging der Sport der Politik voraus.

Die Realpolitik der 1969 gewählten SPD-Regierung unter Daumes altem Verbündeten Willy Brandt hatte in der deutsch-deutschen Frage klare Fronten geschaffen. Die Ostverträge brauchten nur noch unterschrieben zu werden, als Brandt im April 1972 seine parlamentarische Mehrheit verlor. Sein Plan, die Vertrauensfrage zu stellen, wurde auf Eis gelegt, auch um die Olympischen Spiele nicht zu gefährden. In der Arena des Olympischen Friedens wurde die Existenz der DDR auf Laufbahn und Siegerpodium de facto anerkannt. Kaum zwei Monate nach Schluss der Spiele wurden die Ostverträge nach dem größten Wahlsieg der SPD ratifiziert. Leisten konnte Brandt sich da sogar den gewagten Wahlspruch: „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land!“

Im Vorfeld der Spiele fiel das Stolzsein auf Deutschland den Organisatoren nicht so leicht. Denn Olympia bedeutet, ja lebt von Tradition. Wer sich mit Hilfe der olympischen Ideale legitimieren und gut darstellen will, kann seinen eigenen Teil in der Geschichte nicht leugnen. Für Deutschland bedeutete das nicht nur die Berliner Spiele von 1936, die in Daumes Worten als „Hitlers größte Stunde und die größte Zeit des Dritten Reiches“ galten, sondern auch die Schuld der damit verbundenen Verbrechen. Dass die Organisatoren mit diesem Deutschland-Bild zu kämpfen hätten, war von Anfang an klar. Nachdem die deutschen Delegierten auf der IOC-Sitzung ihre Vision eines räumlich kompakten und bescheidenen „Olympia der kurzen Wege“ vorgestellt hatten, das nach dem kritisierten Gigantismus der Spiele von Rom und Tokio zum olympischen Geist zurückkehren wollte, soll das polnische Mitglied geflucht haben: „Kurze Wege in Deutschland sind die in die Gaskammer.“

Kein Wunder, dass Daume und Vogel in ihren Reden vor dem IOC die Vergangenheit verschwiegen. Erst in dem nach den Spielen veröffentlichten offiziellen Bericht durfte von der deutschen Rolle in der Olympia-Geschichte die Rede sein. Da wird die entscheidende Rolle der deutschen Archäologen des 19. Jahrhunderts, die Olympia physisch ausgruben und somit das antike Ideal wieder ans Tageslicht brachten, betont. Da tauchen auch die Spiele von 1936 auf, deren Profil in der olympischen Geschichte lange Zeit gar nicht so schattenhaft war – man denke nur an die Olympia-Medaille, die Leni Riefenstahl 1948 überreicht wurde. Im Jahre 1966 aber gingen die deutschen Delegierten mit der Geschichte vorsichtig um. Vogel beschwor den Geist einer sportlichen Stunde null: „München ist eine Stadt der Jugend und des Sports. Über ein Fünftel seiner Bewohner ist nach 1945 geboren.“ Daume spielte auf die Wiedergutmachung nach Trennung der deutschen Teams an: „Es würde die vornehmste Absicht der Spiele in München sein, die Idee der olympischen Zusammenarbeit zwischen West und Ost, zwischen jungen und alten Nationen zu verwirklichen." Nicht nur dem umstrittenen Klüngel mit den Russen, die die Unterstützung der Deutschen für ihre eigene Kandidatur in späteren Jahren gewinnen wollten, sondern auch der geschickten Rhetorik der beiden Redner hat München die Spiele zu verdanken.

Der Konzeption nach sollten Olympische Spiele in Deutschland „heiter“ und „menschlich“ sein – „Regenbogenspiele“ eben, deren „äußerer Zuschnitt nicht bombastisch werden“ dürfte, „aber doch einen liebevoll-festlichen Rahmen von hohem künstlerischen Niveau haben“ könnte. Zwar erzeugte die Verlautbarung dieser Absicht im turbulenten sozialen Klima der späten Sechzigerjahre eine Welle von Missverständnissen. Aber die Rhetorik der Vergangenheitsbewältigung ließ sich visuell umsetzen. Entscheidend für das Gelingen des Projekts war der Olympiapark. Aus dem Oberwiesenfeld, dem im industriellen Norden liegenden ehemaligen Exerzierplatz der Münchener Garnison, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Trümmern der Stadt beladen wurde, kreierten der Architekt Günther Behnisch zusammen mit dem Gartenbauer Günther Grzimek eine atemberaubende neue Landschaft. Behnischs Team von Nachwuchstalenten bastelte Monate lang in Sandkästen rum, um gegen den axialen Monumentalismus des Berliner Reichssportfeldes einen Kontrapunkt zu setzen. Die Ebene wurde in Hebungen und Senkungen verwandelt, ein See angelegt, zu dem sich begrünte Ufer herabsenkten, ein olympischer Berg geschaffen aus zusammengeschobenen Trümmern und frischem Rasen von Alpenwiesen. Diese „neue Natur“ sollte „Foren der ungezwungenen Begegnung“ und „menschlicher Kommunikation“ bieten. Nichts sollte über den Besucher empor ragen. Zu diesem Zwecke wurde das Stadion zur guten Hälfte in die Erde versenkt. Das wegen der hohen Kosten umstrittene Zeltdach sollte die demokraktische Transparenz der Bundesrepublik zur Schau stellen. Die Wirkung dieser Symbiose von Natur und Geschaffenem wurde durch die Schöpfungen des Designers Otl Aicher verstärkt. Aicher meinte: „Mit Farben kann man Politik machen". Dazu nutzte er viele Träger visuellen Designs. Plakate, Broschüren, Bulletins, Eintrittskarten, Briefköpfe, Fernsehspots, Fahnen, Bekleidungen und Abzeichen – alles sollte ein System variabler Elemente bilden.

Farben eines Sommertages

Angestrebt wurde „Gleichheit durch Verwandtschaft“. Das war auch metaphorisch gemeint. Das Fest sollte ernst sein, aber auch leicht. Als Primärfarbe wurde deshalb ein lichtes, mittleres Blau gewählt, unterstützt von einem Grün gleicher Helligkeit, Weiß und Silber. Die Farben eines bayerischen Sommertages, wie Daume erklärte. Farben aber auch, die sich in der Natur des Olympiaparks widerspiegelten, wo Silberweiden am grünen Ufer des blauen Sees standen. Und Farben, die das faschistische Rot von den Regenbogenspielen fern hielten. Um die Assoziation „unpathetisch, frisch, leicht und agil“ zu unterstützen, wurde eine Groteskschrift entwickelt, die Korrektheit mit Jugendlichkeit verbinden sollte. Es sollte „ein Schriftbild ohne Aggression“ sein.

Aggression hatten die Spiele bekannterweise leider genug. Am 5. September, als palästinensische Terroristen im olympischen Dorf die israelische Mannschaft überfielen und Geiseln nahmen, wurden laut Daume „die heiteren Spiele auf ihrem Höhepunkt jäh zerstört“. Trotz des Terroranschlags, der nach einer vergeblichen Befreiungsaktion auf dem Militärflughafen von Fürstenfeldbruck sein blutiges Ende nahm, gingen die Spiele weiter. Aber dieselben Spiele waren es nicht. Alle Heiterkeit war weg, und schwer bewaffnete Polizisten standen rings ums Stadion. So sind diese Spiele in Erinnerung geblieben.

Issa, der Sprecher der Terroristen, entschuldigte sich während der Verhandlungen: „Es tut mir Leid. Sie haben wunderschöne Spiele gemacht."

Der Autor ist Stipendiat der Humboldt-Stiftung und lehrt Germanistik an der Universität Cambridge. Er schreibt eine Monographie über die Spiele von München.

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false