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© promo

Doping-Vergangenheit: Wir haben nicht mitgemacht

Henrich Misersky war Trainer im Osten. Hier erzählt er, wie er und seine Tochter Antje Misersky dopen sollten und sich wehrten.

Ganz arglos ging ich zu dieser Sitzung. Ich ahnte ja nicht, dass diese Einladung mein Leben erheblich verändern würde. Ich ahnte ja nichts von den Morddrohungen und den anonymen Briefen und auch nichts davon, dass jemand mal den Spanner am Vorderrad meines Mountainbikes lösen würde.

Es war ein Tag im Frühjahr 1985, ich war Skilanglauf-Trainer beim SC Zella-Mehlis im Thüringer Wald. In meiner Trainingsgruppe waren Jugendliche, darunter meine talentierte Tochter Antje. Eigentlich unterrichtete ich Sport an der Technischen Hochschule Ilmenau. Aber weil die Jugendläufer des SC Zella-Mehlis zu wenige Erfolge hatten, wurde ich zum SC delegiert – und hatte Erfolg. Antje zum Beispiel gewann als 16-Jährige bei den DDR-Meisterschaften den Lauf über 20 Kilometer. Mit 17 wurde sie WM-Dritte mit der Staffel und DDR-Meisterin über fünf Kilometer. Alles ohne Doping.

Ich stapfte durch Oberhof, noch immer lag Schnee. In der Sportschule des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR, kurz DTSB, war eine Sitzung mit Spitzentrainern angesetzt. In einem nüchternen Konferenzraum warteten schon Funktionäre des DDR-Skiverbands. Einer von ihnen war Kurt Hinze, der Cheftrainer der Skilangläufer. Auch Helmut Zensler von der Abteilung Methodik war da. Zensler verkündete militärisch knapp: „Ab sofort gehören unterstützende Mittel auch beim Nachwuchs zum Verbandsprogramm. Wie im Frauenrudern und im Kanu.“ Dopingmittel also.

Ich horchte auf. Talente mit Dopingmittel verbandsweit zu mästen, das hatte es bis dahin im Skilanglauf nicht gegeben. Meine Sportlerinnen haben kein Doping erhalten, darauf habe ich geachtet. Und nun sollte meine Tochter Oral-Turinabol schlucken, das Standard-Dopingmittel der DDR. Für mich undenkbar.

Von diesem Tag an begann mein Abstieg als Trainer.

Empört sagte ich im kleinen Kollegenkreis, meine Sportler würden da nicht mitmachen. Irgendeiner plauderte, und nun schaltete sich Zensler ein; er hatte das neue Verbandsprogramm offenbar ausgearbeitet. Er versuchte, mich auf Linie zu bringen, sanft noch, mit Versprechungen. Allerdings vergeblich. Dann griff Hinze ein, und nun ging es rauer zu. „Leute wie Du sind politisch unzuverlässig“, sagte er, „die müssen verschwinden.“ Kurz darauf rief Thomas Köhler, der Vizepräsident Leistungssport des DTSB, beim SC Zella-Mehlis an. „ Misersky ist sofort zu entlassen“, ordnete er an. Danach war ich gefeuert, sechs Wochen nach der ersten Sitzung.

In der Zwischenzeit hatte ich weitertrainiert, aber meine Sportler über die Dopingpläne informiert. Ich habe ihnen die möglichen Nebenwirkungen von Dopingmitteln aufgezählt: Vermännlichung, Akne, Leberschäden, Herzprobleme. Das wusste ich von meiner Schwiegermutter. Die ist Ärztin.

Meine Sportlerinnen waren entsetzt, und Antje marschierte zum Klubchef des SC Zella-Mehlis, dem Genossen Werner Setz. „Ich nehme auf gar keinen Fall Dopingmittel“, sagte sie ihm ins Gesicht. Nach der Wende habe ich erfahren, dass alle Sportlerinnen, die sich weigerten, ohne ihr Wissen gedopt wurden.

Klubchef Setz witterte sofort meinen Einfluss hinter Antjes Auftritt. Sie war gerade 17 Jahre alt, und er bearbeitete sie. Antje solle den Kontakt zum Elternhaus abbrechen, übers Training dürfe sie zu Hause nichts erzählen. Antje wohnte im Sportinternat, sie ging in die Kinder- und Jugendsportschule (KJS). Am Wochenende, wenn der Schnee gut war, lief sie mit ihren Ski 25 Kilometer nach Hause.

Aber Antje ließ sich nicht einschüchtern, deshalb musste sie sich aus dem Leistungssport ausdelegieren, also abschieben lassen. Der Versuch allerdings, sie auch aus der KJS zu werfen, scheiterte. Antje machte in Oberhof ihr Abitur. Aber sie trainierte nun allein, nur ich habe sie betreut – und wir hatten Erfolg. Sie wurde zweimal DDR-Studentenmeisterin. Aber zur Universiade wurde sie nie nominiert.

Ich kehrte wieder zur Technischen Hochschule zurück. Probleme bekam ich dort nicht – auch nicht in Stürzenbach, dem Dorf, in dem ich heute noch lebe. Erst nach der Wende habe ich gespürt, dass der alte Geist noch durch die Gegend wehte. Bei den Olympischen Winterspielen 1992 in Albertville stritt ich im Fernsehen mit Helmut Weinbuch, dem Sportdirektor des Deutschen Skiverbands (DSV). Antje ist in der Wendezeit auf Biathlon umgestiegen, nun hatte sie an diesem Tag Gold über 15 Kilometer gewonnen. Mich hatte es maßlos geärgert, dass der DSV doping-belastete ehemalige DDR-Trainer und -Funktionäre aufgenommen hatte. Die DSV-Funktionäre waren so medaillengeil, dass sie alles ausgeblendet haben. Das alles habe ich Weinbuch vorgeworfen. Antje war zugeschaltet und empörte sich ebenfalls. Weinbuch entgegnete, er habe den Athleten ihre Bezugspersonen erhalten wollen.

Nach der Sendung kamen anonyme Briefe und Morddrohungen.

Viel geändert hat sich nicht. Sportdirektor des DSV ist heute Thomas Pfüller. Ich erinnere mich an 1985, da saßen Pfüller und ich in einer Ecke der leeren Cafeteria in der besagten Sportschule. Er hatte mich hinbestellt. Pfüller war damals hochrangiger Funktionär und fest ins SED-System eingebunden. „Du musst dich dem Programm unterordnen“, hat er damals gesagt, „oder du hast keine Perspektive.“

Henrich Misersky war bis zu seiner Entlassung Skilanglauf-Trainer beim DDR- Verein SC Zella-Mehlis. Er betreute auch nach der Wende seine Tochter Antje, die bei den Olympischen Spielen 1992 Gold im Biathlon über 15 Kilometer sowie zwei Silbermedaillen gewann. Seine Schilderung wurde aufgezeichnet von Frank Bachner.

Henrich Misersky

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