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Obsession Aufstieg. Dresdens Fans wollen endlich wieder großen Fußball sehen. Foto: dpa

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Sport: Eine erdrückende Liebe

Dynamo Dresden kämpft um den Aufstieg in die Zweite Liga, doch die Fans sehnen sich schon nach mehr. Der Klub leidet noch immer unter den Altlasten seiner Vergangenheit – und den neuen Erwartungen

Es ist der Tag, an dem Träume wahr werden. Deshalb hat der Vater seine Vision gut sichtbar auf die eigene Stirn gemalt. „Dynamo Dresden – Aufsteiger 2011“ steht dort in großen Lettern. Die Temperaturen sind an diesem Nachmittag auf 23 Grad geklettert, und langsam beginnt sich die Farbe über das Gesicht des Mannes zu verteilen. Mit einer Mischung aus Faszination und Angst schaut ihn sein Sohn an. Irgendwann fragt der Junge: „Papi, wenn wir heute gewinnen, kommt dann Uli Hoeneß und Bayern im nächsten Jahr zu uns nach Dresden?“ Der Vater lächelt, und noch ehe er antworten kann, beginnen die anderen Fans am Pirnaer Platz zu singen. „Zweite Liga, Dresden ist dabei!“ Vater und Sohn stimmen ein.

Für Dynamo Dresden steht am Abend nicht weniger als die Zukunft auf dem Spiel. Als Dritter der Dritten Liga hat Dresden Heimrecht im ersten Relegationsspiel, ehe es am Dienstag zum Rückspiel in Osnabrück kommt. Der Sieger darf zur neuen Saison in der Zweiten Liga mitspielen, und wenn man an diesem Nachmittag durch Dresden läuft, bekommt man das Gefühl, dass es im Fußball nichts Größeres gibt. Mehr als 60 000 Kartenanfragen seien in den vergangenen Tagen auf der Geschäftsstelle eingegangen, berichtet Dynamos Geschäftsführer Volker Oppitz, doch nur etwas mehr als 28 000 Menschen finden in der Dresdener Arena Platz. Diejenigen, die keine Karten mehr bekommen haben, strömen schon früh in die Kneipen, um sich die besten Plätze zum Public Viewing zu sichern. Drei Stunden vor Spielbeginn ist es überall brechend voll.

Am gleichen Tag geht Reiner Calmund in Berlin seinen Terminkalender durch: Er hat viel zu tun, für eine Reise nach Dresden ist kein Platz. Obwohl Calmund wenig Zeit hat, ist der 62-Jährige vor gut einem Jahr als Berater bei Dynamo Dresden eingestiegen. Kurz nach der Wende hatte Calmund Ulf Kirsten aus Dresden losgeeist und den Verein im Gegenzug mit wirtschaftlichem Know-how versorgt. Seitdem sind Dresden und Calmund verbunden. Dabei wollte der mit Fußball nichts mehr zu tun haben. Nach seinem Ende als Manager bei Bayer Leverkusen ist er als TV-Star zu einer Marke geworden. Nun sitzt er in der Lobby eines Fünfsternehotels in Mitte, am Nebentisch spielt Manuel Neuer mit seinen Schalker Mannschaftskollegen Karten. Neuer kommt rüber, man kennt sich. Noch immer ist Calmund in der Glitzerwelt des großen Fußballs zu Hause und damit dort, wo Dynamo gern hin möchte. Als die Sprache wieder auf Dresden kommt, fuchtelt Calmund wild mit den Armen, er gestikuliert und seine Stimme überschlägt sich, während er mit den Händen auf den Tisch haut. „Tradition, Tradition – alles schön und gut“, sagt Calmund. „Aber Tradition allein reicht nicht.“ Wenn Calmund das in Dresden anspricht, stößt er damit nicht immer auf Gegenliebe. Er bezeichnet sich als „Freischwimmer“ – Tätigkeitsfeld unklar.

Calmunds offene Worte berühren einen wunden Punkt der Dresdener Volksseele. Jahrelang hat sich Dynamo auf seine große Tradition berufen und dabei den Übergang ins Hier und Jetzt vergessen. Acht Meisterschaften und sieben Pokale gewann Dynamo zu DDR-Zeiten, doch mit dem Fall der Mauer begann der Ruhm zu verblassen. Der Verein kam im wiedervereinigten Deutschland nie an und stürzte zeitweise bis in die Oberliga ab. Schuld daran ist im kollektiven Gedächtnis der Dresdener Fans vor allem Rolf-Jürgen Otto. Der zwielichtige Bauunternehmer, der sein Geld zuvor als Kneipier und Boxveranstalter verdient hatte, trieb den Verein in den neunziger Jahren beinahe in den Ruin. Weil Otto aus Hessen stammte und weil der Deutsche Fußball-Bund (DFB) Dresden die Lizenz verweigerte, entstand in der Stadt der Mythos vom benachteiligten Ostverein. Mit diesem Placebo versuchten die Dresdener lange, ihren Schmerz über Dynamos rasanten Abstieg zu verdrängen. Dass einige Probleme hausgemacht waren, wollten viele nicht wahr haben. Zeitweise wechselte Dynamo seine Präsidenten schneller als die Bäume ihre Blätter, Vorstände kamen und gingen. Auf der Führungsebene kehrte keine Ruhe ein, weil sich Traditionalisten und Progressive nie auf einen gemeinsamen Kurs einigen konnten.

Calmund will als Berater dafür sorgen, dass sich das ändert, doch so ganz scheint das Chaos noch immer nicht beseitigt. Was der Herr Calmund genau tut und ob er noch als Berater des Vorstandes tätig ist, dazu will sich Steffen Menze nicht äußern. Vielleicht weiß er es auch nur einfach nicht. Seit wenigen Wochen ist der ehemalige Kapitän von Union Berlin als Sportdirektor bei Dynamo tätig. Mit 42 Jahren ist Menze neun Jahre älter als Dynamos Geschäftsführer Volker Oppitz. Beide sind Novizen auf der Funktionärsebene, ihre Zeiten als Aktive liegen noch nicht lange zurück. Zwei Berufsanfänger am Steuerpult von Dynamo. Ob das gut geht? Calmund sagt nichts. Er versucht zuversichtlich zu wirken, doch sein Schweigen bedeutet etwas anderes.

Volker Oppitz und Steffen Menze hätten kaum anspruchsvollere Jobs antreten können. Einerseits müssen sie Dynamos Finanzen unter Kontrolle halten. Noch immer belaufen sich die Verbindlichkeiten auf etwa acht Millionen Euro, dazu kommt, dass die Stadt Dresden durch ein Darlehen Mitspracherecht in Personalfragen hat. Zum anderen müssen Menze und Oppitz den Wunsch des Dresdener Publikums nach einer schlagkräftigen Mannschaft befriedigen.

Unmittelbar vor dem Anpfiff gegen Osnabrück machen die Fans noch einmal unmissverständlich klar, was sie erwarten. „Der Aufstieg ist zum Greifen nah – macht unseren Traum endlich wahr“, steht auf einem Plakat. Dass die Mannschaft mit einem Schlussspurt von fünf Siegen aus den letzten sechs Spielen noch sensationell in die Relegation gerutscht ist, befeuert die Euphorie zusätzlich. „Dabei kommen diese Relegationsspiele fast ein Jahr zu früh“, sagt Calmund. Und tatsächlich scheint die bundesligareife Kulisse von 28 682 Zuschauern die junge Dresdener Mannschaft zeitweise zu lähmen. Als Osnabrück durch ein Eigentor in Führung geht, setzt kurz eine kollektive Schockstarre im Stadion ein. Es bleibt friedlich und enthusiastisch, das war nicht immer so. Einige Dynamo-Fans fielen in der Vergangenheit negativ auf, es kam mehrmals zu Ausschreitungen. Später trifft Dynamo noch zum Ausgleich – das Stadion tobt. Bei der anschließenden Pressekonferenz sieht Sportdirektor Steffen Menze sehr müde aus, das Spiel hat Nerven gekostet. „Noch ist alles drin“, sagt Menze. Draußen rufen die Fans „Auswärtssieg! Auswärtssieg“! Die Botschaft der Anhänger ist klar: Der Traum vom Aufstieg soll Realität werden. Damit irgendwann mal wieder die Bayern nach Dresden kommen.

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