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Alles Kopfsache. Sebastian Vettel hat Konkurrenz von Teamkollege Charles Leclerc (l.) und Weltmeister Lewis Hamilton.

© Greg Baker/AFP

Motivationsexperte Über Sebastian Vettel: „Er braucht mehr Ruhe im Kopf“

Motivationscoach Steffen Kirchner über die Bedeutung der Psyche in der Formel 1 – und Probleme von Sebastian Vettel im Titelkampf. Ein Interview.

Von David Joram

Herr Kirchner, nichts wird so sehr gelobpreist wie die Siegermentalität. Gibt es auch eine Verlierermentalität?

Die Mentalität ist ja nichts anderes als die Summe aller Denkmuster in einem Menschen oder einem Team, beziehungsweise auch in einer ganzen Nation. Und aus Denkmustern werden dann auch Verhaltensmuster. Bei erfolgreichen wie weniger erfolgreichen Menschen gilt das. Insofern: Ja, es gibt auch eine Verlierermentalität.

Wie entstehen Mentalitäten?

Mentalität ist nicht einfach da, sie wird von verschiedenen Einflussfaktoren geprägt, durch Kultur, durch stammesgeschichtliche Entwicklung, durch den Stammbaum, letztlich auch durch Menschen, Großeltern, Eltern. Aber auch durch äußere Dinge wie das Wetter. Wenn es wärmer ist, wird der Mensch träger. Die Amerikaner hatten deshalb eine gute Idee.

Und zwar?

Sie haben das ganze Land deswegen relativ erfolgreich gemacht, weil sie flächendeckend Klimaanlagen eingebaut haben und somit das Land runterkühlten. Deshalb ist „der Amerikaner“ auch in wärmeren Regionen der USA relativ erfolgreich.

In heißen Ländern ohne Klimaanalage kann man also nicht erfolgreich sein?

Dort ist man dafür etwas entspannter, andererseits auch emotionaler. Man ist heißer, im wahrsten Sinne des Wortes. Das sagt man ja auch im Sport: Wer heißer ist, ist emotionaler. Übrigens weiß man aus der Verkaufspsychologie: Wenn man einem Menschen ein Heißgetränk anbietet, wird man mit dem schneller warm, als mit einem Kaltgetränk.

Also besser Tee trinken als Wasser.

Genau! Und wenn ich jemanden noch auf einen weicheren Stuhl setze, verhandelt der tatsächlich auch weicher, als wenn ich ihn auf einen harten setze.

Schalkes früherer Manager Rudi Aussauer sagte mal: „Das Wort mental gab es zu meiner Zeit als Spieler gar nicht, nur eine Zahnpasta, die so ähnlich hieß.“ Seit wann ist das Thema Mentalität en vogue?

Die Frage muss lauten, seit wann es flächendeckend ein Thema ist. Schon die alten Römer oder große Feldherren haben über Mentalität diskutiert, damit gearbeitet. Die hatten auch eine bestimmte Mentalität, die vorgelebt wurde. Also alle großen Führer …

im positiven wie im negativen …

… ja, genau. Die weniger guten Führer haben versucht, eine bestimmte Mentalität in die Köpfe der Menschen zu bringen. Das nennt man Negativen Brainwash, im Positiven nennt man es Inspiration. Es ist immer eine Frage der Absicht. Letztlich aber ist der Mensch ist ein mentales Wesen, weil mentale Abläufe einen Teil unserer Persönlichkeit ausmachen. Entsprechend gibt es das Thema Mentaltraining schon seit es den Menschen gibt.

Und in der Breite?

Flächendeckend bekannt geworden ist es, als auch der Sport flächendeckend ins Medieninteresse gerückt ist. Da wurde dann sichtbar, was Unterschiede in der mentalen Verfassung für die Leistungsunterschiede ausmachen. In den USA sind sie in solchen Fragen ein Stück weit offener und weiter, da gab es schon in den 1960er, 70er und vor allem 80er Jahren Boomwellen, als plötzlich die Motivationstrainer aufkamen. Im deutschsprachigen Raum kommt es nun mehr und mehr an, aber die Vorbehalte sind noch größer. Das Thema gilt als softer Faktor.

Steffen Kirchner, 37, arbeitet als Motivationstrainer mit Spitzensportlern zusammen. Zu seinen Kunden zählte etwa der Turner Fabian Hambüchen. Auch im Motorsport hat Kirchner Klienten.

© promo

Die Formel 1 gilt kaum als soft, eher als prollig und protzig, als „Männersport“. Passt der softe Faktor Mentaltraining also nicht dorthin?

Im Rennsport, das geht vielleicht etwas unter, wird schon sehr stark mit Sportpsychologen und Mentaltrainern gearbeitet. In der Formel 1 fehlt im Unterschied zu Rugby, Fußball oder Handball der körperliche Faktor, das klassische Duell „Mann gegen Mann“. Aber es geht in der Formel 1 ums Leben, insofern ist es ein knallharter Sport.

Was bedeutet das für die Psyche?

Schwächen zu zeigen, mentale Schwächen zu zeigen, ist noch weniger „erlaubt“ beziehungsweise birgt noch größere Risiken als in anderen Sportarten. Kleinigkeiten können sich dramatisch auswirken, es geht ja um hundertstel und tausendstel Sekunden. Emotionale Sprünge und Schwankungen werden deshalb extrem hoch bewertet. Die psychologische Kriegsführung wird extrem geführt, gerade auch im Hintergrund.

Sebastian Vettel hat nach dem verlorenen Titelkampf 2018 erwähnt, er finde Mentaltrainer zwar interessant, habe aber genug Selbstdisziplin entwickelt, um sich nicht beirren zu lassen. Er habe „Dinge entwickelt, die funktionieren“. Würden Sie ihm – nach dem verkorksten Saisonstart – nun doch zu einem Coach raten?

Ich glaube nicht, dass ich Sebastian Vettel irgendetwas raten würde, solange er mich nicht fragt. Raten kann man generell vielen Menschen immer etwas, auch Sebastian Vettel.

Bei Vettel ist die Lage ja etwas spezieller, gerade weil er mit seinem neuen Teamkollegen Charles Leclerc einen weiteren Herausforderer hat – der in Bahrain zudem klar besser fuhr.

Wenn er die Aussage von 2018 nicht nur so gesagt hat, sondern es tatsächlich auch so gemeint hat, würde ich ihm vielleicht schon dazu raten, sich für das ein- oder andere Thema ein bisschen zu öffnen. Selbstdisziplin ist ein mentaler Muskel, der bei einer Person wie Vettel aber mit Sicherheit sehr, sehr stark ausgeprägt ist. Vettel ist ein Champion, der war schon viermal Weltmeister, der ist ja kein Kasperl.

Aber?

Kein aber, er wird von außen in einer Art und Weise dargestellt, die ich erstaunlich finde. Kein anderer deutscher Formel-1-Fahrer, mit Ausnahme von Michael Schumacher, hat so viele Erfolge wie Vettel gefeiert.

Dennoch wirkt er früh in der Saison in die Defensive gedrängt.

Jeder mentale Muskel kann überstrapaziert werden, so wie jeder normale Muskel. Es gibt diesen Punkt, da erkennt ein Sportler, dass er mit Selbstdisziplin und mentaler Stärke nicht mehr weiterkommt. Man kommt dann auf der Ergebnisebene nicht mehr aufs nächste Level, weil man sich in seiner Persönlichkeitsentwicklung auf einer Bewahrungsebene wiederfindet. Ob das bei Sebastian Vettel so ist, kann ich aber nicht sagen. Ich habe da keinen Einblick.

Man könnte es aber zumindest als Erklärungsansatz hernehmen?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sebastian Vettel nicht mit sportpsychologischer Beratung oder Betreuung arbeitet oder gearbeitet hat. Falls doch, fände ich das grob fahrlässig.

Als Vettel bei seinem alten Rennstall Red Bull die Weltmeisterschaften noch in Serie einfuhr, hieß es stets, er sei mental einer der Allerbesten. Inzwischen werden ihm mentale Schwächen angehängt. Wird Mentalität zu sehr in schwarz/weiß gedacht?

Falsch ist die Denkweise, zu behaupten, jemand habe die Siegermentalität oder er habe sie nicht. Mentalität ist nichts angeborenes, kein Lichtschalter, der ein- oder ausgeht. Mentalität ist ein dynamischer Prozess, sie verändert sich jeden Tag, weil wir jeden Tag neue Erfahrungen machen.

Was lenkt diesen Prozess in eine ungewünschte Richtung?

Wenn zum Beispiel Vertrauen fehlt, was zum Beispiel bei Vettel der Fall sein könnte, wirkt sich das negativ auf die Mentalität aus. Aber jeder Mensch kann seine Mentalität verbessern, obwohl gilt, dass nicht jeder von der Mentalität her Formel-1-Weltmeister werden kann. Oder nehmen wir den Fall Sebastian Deisler: Er hatte eine Veranlagung auf der körperlichen Ebene, aber mental hatte er nicht die Veranlagung dazu, im Fußballprofi-Geschäft glücklich werden zu können. Das ist ein Faktum.

Könnte Vettel aus der neuen Situation mit Leclerc als zusätzlichem Gegenspieler auch Stärke ziehen?

Das ist alles sehr komplex, weil man auch nicht weiß, welche sportpolitischen Spielchen im Hintergrund getrieben werden. Wen zieht der Rennstall vor? Welche Karrierepläne hat Ferrari mit Leclerc? Und so weiter. Mir kommt es so vor, als habe Vettel in den letzten Jahren sehr viel Energie und Kraft in verschiedene Dinge investieren müssen, weil er gegen – bildlich gesprochen – gegen ein paar Hindernisse anlaufen musste. Das kann fehlendes Vertrauen sein, Reglementsänderungen, das ganze Business Formel 1, von dem er die Schnauze vielleicht voll hat. Der Kollege Nico Rosberg hat ähnliches berichtet, dass die Show zunimmt, der Sport ab.

Was heißt das nun für Vettel?

Er wurde gebremst an manchen Stellen, er wirkt deshalb etwas müde. Und den großen Erfolg hatte er ja schon. Ich könnte mir deshalb vorstellen, dass ihm dieser Hunger, die letzten zwei Prozent, vielleicht fehlt. Tendenziell fehlt ihm die Stille im Kopf, wenn man sich seine Fehler in der letzten Zeit anschaut. Er braucht wieder mehr Ruhe im Kopf, wenn er es noch einmal schaffen will. Und dafür kann man sich durchaus Unterstützung holen. Vielleicht hilft auch eine kleine Auszeit.

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