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Sport: Good bye Lenin

Die Ukraine bereitet sich mit viel Enthusiasmus auf die Fußball-EM vor und greift beim Kampf um ein gutes Image auch auf unorthodoxe Methoden zurück.

Ihrem Namen nach ist die Ukraine, so die gebräuchlichste Lesart alter Schriften, das „Land an der Grenze“, an der Peripherie. Im Sommer will sie mental einen Schritt in Richtung Mitte tun. „Wir Ukrainer möchten uns als Teil von Europa fühlen“, sagt Markian Lubkiwski. Er ist der Chef des nationalen Organisationskomitees der Fußball-EM und glaubt, dass dem Turnier eine „sehr wichtige, wenn nicht historische Rolle“ für die Ukraine zukommt.

Manchmal treibt der Wunsch, sich dem Ausland in vorteilhaftem Licht zu präsentieren, allerdings seltsame Blüten. Die Kiewer Agentur „Shootgroup“ ließ in einem kurzen Promovideo kurzerhand das 20 Meter hohe Lenin-Denkmal vom Freiheitsplatz in Charkiw verschwinden. Dabei muss der wegretuschierte Ober- Bolschewist so oder so mit zur EM: Charkiw ist eine der vier ukrainischen Gastgeberstädte. Im Metalist-Stadion trägt Deutschland am 13. Juni sein Vorrundenspiel gegen die Niederlande aus. Und die Fanmeile auf dem riesigen Freiheitsplatz, wo sich 2008 rund 300 000 Menschen versammelten, um „Queen“ spielen zu hören, wird zu den größten der EM gehören. Lenin inklusive.

Umso weniger Verständnis brachten die ukrainischen Medien für den verschämten Umgang mit einem Teil der eigenen Geschichte auf. Auch der deutsche Filmemacher Jakob Preuss hält es für „ungeschickt“, dass die Ukraine ausgerechnet mit Modernität werben und den Eindruck vermitteln wolle, es sei „alles so toll wie in Europa“, das werde „nicht gelingen“. Preuss hat 2008 und 2009 in Zusammenarbeit mit dem ZDF seine viel beachtete Sozialstudie „The Other Chelsea“ über Schachtjor Donezk, seine Verantwortlichen und Anhänger im Kohlerevier Donbas gedreht. Für den Berliner ist die Ukraine heute eine Oligarchie und wird „völlig antidemokratisch“ regiert, wobei Präsident Viktor Janukowitsch in den Augen der Bevölkerung zunehmend abgewirtschaftet habe. „Es wäre schlimm, wenn es ihm gelänge, aus der EM politisches Kapital zu schlagen.“

Schätzen gelernt hat Preuss dagegen die „unglaubliche Menschlichkeit“ der Ukrainer. „Nach Donezk zum Beispiel kommen nicht sehr viele Ausländer. Da wird man mit großer Offenheit und Neugierde empfangen. Ich würde das jedem als Reiseziel empfehlen, auch wenn gerade kein Fußball ist.“

Zunächst einmal aber ist überall Fußball. „Die Ukrainer haben Lust auf die Europameisterschaft“, sagt Preuss. Mit Nationaltrainer Oleg Blochin, mit Igor Belanow und Andrej Schewtschenko wurden gleich drei Ukrainer Europas Fußballer des Jahres. 1975, 1986 und 2004 war das. Waleri Lobanowski, Trainerpatriarch von Dynamo Kiew, bis ihn 2002 ein tödlicher Schlaganfall auf der Bank ereilte, gilt vielen als einer der größten Fußballweisen schlechthin. Dynamo Kiew und Schachtjor Donezk haben zusammen drei Europapokale gewonnen, den letzten 2009. Auf nationaler Ebene wechseln sich die beiden Klubs als Meister ab, ansonsten ist das Niveau mäßig.

Die Nationalmannschaft überzeugte beim 3:3 im Testspiel gegen Deutschland, mit dem das rekonstruierte Kiewer Olympiastadion eingeweiht wurde, aber durch ihr überfallartiges Umkehrspiel. „Diese Schnelligkeit, diese Inspiration, Furchtlosigkeit und Abschlussstärke – eine Offenbarung“, sagt ein ukrainischer TV-Kommentator. Damit habe das Team die Zuschauer in Euphorie versetzt. Trotzdem wird die Ukraine ein Wunder brauchen, um ihre Vorrundengruppe mit England, Frankreich und Schweden zu überstehen. OK-Chef Lubkiwski demonstriert augenzwinkernd Selbstbewusstsein: „Für uns zählt nur der Turniersieg. Da lachen Sie? Ich habe nach dem 3:3 gegen Deutschland gelacht!“

Mit schnellem Umschalten von Defensive auf Offensive steuert die Ukraine inzwischen zumindest organisatorisch auf ein Happy End zu. Nach der EM-Vergabe 2007 hatte der europäische Verband Uefa lange ein höheres Tempo angemahnt und mehr oder weniger unverhohlen damit gedroht, ukrainische Austragungsorte von der Liste zu streichen. Das ist vom Tisch. Als letztes der vier Stadien wurde Ende Oktober die Arena Lwiw in Lemberg eingeweiht.

Nach der Winterpause wird es als neue Heimspielstätte des Ortsklubs FK Karpaty getestet. Mit der Donbas Arena in Donezk verfügt die Ukraine seit 2009 über eines der attraktivsten Stadien in ganz Europa. Im Kiewer Olympiastadion findet am 1. Juli das EM-Finale statt.

Fraglich ist, wie sich die Ukraine bei der übrigen Infrastruktur schlägt. Mangels Autobahnen werden sich Pkw-Fahrer über Fernverkehrsstraßen quälen müssen. An der Grenze zwischen Polen und der Ukraine sollen die Kontrollen bei der EM nur auf polnischer Seite erfolgen, um die Abfertigung zu beschleunigen.

Die ukrainische Bahn hat bei Hyundai in Südkorea neue Triebwagenzüge gekauft. Sie sollen die Fahrzeiten erheblich verkürzen. Sorgen bereitet auch die Bettenkapazität der Hotels.

Problemlos gestalten sich in jedem Fall die Einreiseformalitäten. EU-Bürger können sich bereits seit Jahren bis zu 90 Tage visafrei in der Ukraine aufhalten. Fernsehkommentator Alexander Gliwinski appelliert an Besucher aus dem Westen, sie mögen „nachsichtig sein mit uns“, wenn es während der EM an der einen oder anderen Stelle klemme. „Wir sind wirtschaftlich noch ein Entwicklungsland und können nicht alles von heute auf morgen lösen.“ Eines stehe jedoch fest: „Die EM wird ohne jeden Zweifel ein großes Fest.“

Tino Künzel[Moskau]

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