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Sport: Großmannssucht ade

Wie 1860 München vom Abstiegskandidaten zum seriös geführten Bundesliga-Anwärter wurde

Was passiert wäre, wenn Mustapha Hadji getroffen hätte mit jenem Kopfball am 7. Mai, 51. Spielminute? Stefan Reuter kann das nicht genau sagen, aber so einen Tag, da ist er sich sicher, will er nie mehr erleben. Es wäre der Ausgleich des 1. FC Saarbrücken gewesen bei seinem TSV 1860 München, am vorletzten Spieltag der vergangenen Saison. Ein Punkt wäre damals nicht genug gewesen, man hätte dann siegen müssen im letzten Saisonspiel bei Aufstiegskandidat Cottbus.

So nah wie bei Hadjis Torchance war der TSV 1860 dem Exitus noch nie. Die Angst ließ sich fühlen an jenem Sonntagnachmittag, denn alle Sechzig-Getreuen kannten die Wahrheit, die Geschäftsführer Stefan Ziffzer einige Tage zuvor ausgesprochen hatte: Bei einem Abstieg wäre der Verein tot. Verbindlichkeiten und die Kosten der Allianz Arena hätten den Klub binnen kürzester Zeit erdrückt.

Hadji traf nicht. 1860 rettete das 1:0 über die Zeit, sicherte mit dem Sieg den Klassenerhalt und schuf dadurch die Grundlage einer bemerkenswerten Metamorphose: In nur vier Monaten wandelte sich der TSV 1860 vom hochgradig existenzbedrohten zum seriös geführten Fußballklub, der sich, wenn alles gut läuft, vielleicht sogar in den Aufstiegskampf einmischen könnte.

Die Stimmung ist dieser Tage bestens bei 1860, mehr als 40 000 Zuschauer werden zum heutigen Heimspielauftakt gegen Offenbach erwartet. Die Mannschaft hat in der Vorbereitung urplötzlich Euphorie entfacht, eine Stimmungslage, die man an der Grünwalder Straße nicht mehr zu kennen glaubte und so kurzfristig auch nicht erwarten durfte. Denn das Team, das in den Testspielen ein Versprechen auf eine gute Saison gegeben hat, ist im Grunde nicht mehr als ein Rationalisierungsprodukt. Nach dem Beinahe-Bankrott, der aus dem Missmanagement der Vorgängerführungen resultierte, fährt Ziffzer einen kompromisslosen Sparkurs: 14 größtenteils namhafte Spieler verließen im Sommer den Verein; die 15 Neuzugänge, mehrheitlich aus dem eigenen Nachwuchs, kosteten insgesamt keine 100 000 Euro Ablöse.

Doch in dem Kader, der es in puncto Personalfluktuation mit jeder Leiharbeitsfirma aufnehmen kann, hat sich erstaunlich schnell ein stabiles Mannschaftsgefüge herausgebildet: Vier Spieler der Kategorie Ü 30 bilden das defensive Kernstück; fünf Spieler unter 22 Jahren organisieren das von Trainer Walter Schachner propagierte Flügelspiel. Der Österreicher, der nach seinem Dienstantritt im Januar zunächst eine verheerende Bilanz hinlegte, mag die Mannschaft jetzt richtig, hat Reuter beobachtet.

In der Vorsaison hatte Schachner noch häufig darauf hingewiesen, dass das nicht seine Mannschaft sei, womit er bei den Spielern wenig Sympathien gewann. Einige Akteure hätten zudem, sagt ein ehemaliger Vereinsfunktionär, systematisch gegen den Klub gespielt, um im Falle eines Abstiegs ablösefrei wechseln zu können.

Inzwischen aber ziehen Team und Trainer an einem Strang. 1860 begann früher mit der Vorbereitung als alle Konkurrenten. „Es ging uns dabei vor allem ums Team-Building“, sagt Reuter. Gute Ergebnisse ließen nicht lange auf sich warten: Ein stark herausgespieltes 3:0 gegen Partizan Belgrad hatte frühzeitig Zuversicht hervorgerufen, verblüffend souverän schlug man im abschließenden Derby-Test den großen FC Bayern ebenfalls mit 3:0, was auch für das arg ramponierte Selbstwertgefühl der Sechzig-Fans von größter Bedeutung war. Schließlich hatte ihr Klub, auch das war Teil des Ziffzer’schen Rettungsprogramms, dem gering geschätzten Nachbarn für elf Millionen Euro seine Anteile an der Stadion GmbH überlassen müssen.

Während sich Ziffzer um das Finanzielle kümmert, ist Reuter für die sportliche Planung zuständig. Dass die Zusammenarbeit reibungslos abläuft, ist durchaus erwähnenswert. In der jüngeren Vereinshistorie ging es in den Führungsetagen meist so harmonisch zu wie im Denver-Clan: Missgunst und Intrigen waren ähnlich fester Bestandteil des Klublebens wie das morgendliche Training.

Selbstüberschätzung und Großmannssucht, nicht erst seit der Wildmoser-Ära ständige Begleiter des Vereins, scheinen ebenfalls vertrieben. So gibt es nach der offiziellen Sprachregelung kein fixes Saisonziel. „Wir machen das nicht an einem Tabellenplatz fest“, sagt Reuter, entscheidend sei, einen Entwicklungsprozess festzustellen: Von dieser jungen Mannschaft den Aufstieg zu verlangen, sei unfair.

Sollte sie es trotzdem schaffen, wäre bei 1860 freilich niemand böse.

Daniel Pontzen[München]

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