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Sport: Heiko Herrlich: Ein Stehaufmännchen

Früher war Heiko Herrlich ein ordentlicher Zornigel. Das erzählen sie in seiner Heimat in Südbaden.

Früher war Heiko Herrlich ein ordentlicher Zornigel. Das erzählen sie in seiner Heimat in Südbaden. Immer sofort auf hundertachtzig, wenn er nicht bekam, was er wollte. Manchmal musste sein Vater Bernd kommen und ihn beruhigen. Auch in der Schule. Der Lehrer war am Ende. Es hagelte Strafarbeiten. "Ich war mir keiner Schuld bewusst, konnte die Strafe nicht begreifen, bin regelrecht Amok gelaufen", sagte Herrlich junior einmal über seine wilde Zeit. Er ist auf und davon. "Mein Vater musste mich wieder einfangen." Als ihn der Trainer Berti Vogts einmal nicht zu einem Länderspiel der Nationalmannschaft der Unter-15-Jährigen einlud, da wollte er ganz aufhören mit dem Fußball. Vogts redete stundenlang auf ihn ein.

Es gibt viele Geschichten und noch mehr konträre Ansichten über den 29 Jahre alten Mann, der heute als Fußballprofi bei Borussia Dortmund unter Vertrag steht und wegen seiner schweren Erkrankung eine Welle der Anteilnahme quer durch die Fußballnation auslöste: Gehirntumor.

Fassen konnte keiner, was die behandelnden Ärzte sagten. Mit Sehstörungen brachten sie ihn ins Krankenhaus. Nicht einmal mehr die Flanken im Training hatte er gesehen. In Vereinsmagazinen druckte die Liga-Konkurrenz aufmunternde Briefe als Vordruck. Unterschrift genügt. Selbst als die erlösende Nachricht kam, dass er mit einer Bestrahlungstherapie vielleicht wieder völlig gesund werden kann, kamen Waschkörbe voller Faxe.

Erleichterung, fast Jubelstimmung für ein paar Momente in Dortmund, der Stadt über der lange ein Schatten der Bestürzung lag, als sie Mitte November das Video mit Herrlich zeigten, der sich und seine Krankheit outete und sagte: "Ich danke Gott für viele glückliche Jahre und bin bereit, die schwierige Zeit, die ich jetzt durchlebe, anzunehmen."

Es klang wie ein Abschied. Mit Tränen in den Augen saß der Anhang Borussia Dortmunds da, die Profikollegen schluckten den Klos im Hals mühsam runter. "Siegt für mich", sagte der Patient. Der Verein kündigte an, der Vertrag wird über den nächsten Sommer hinaus verlängert. Das seien sie einem schuldig, der um sein Leben kämpft. "Er wirkt sehr gefestigt", berichtete Dortmunds Sportdirektor Michael Zorc nach einem Besuch. Ansonsten wird Heiko Herrlich abgeschottet. Kein Name des Krankenhauses, kein Wort darüber, wo er Weihnachten verbringt. Totale Nachrichtensperre. Zorc: "Heiko braucht seine Ruhe, das versteht wohl jeder." Heiko Herrlich hat in diesen schweren Tagen voller Zweifel oft von seinem "Gottvertrauen" gesprochen. Seit 1990 erzählt er von seiner besonderen Beziehung zur Religion. Damals stand er bei Bayer Leverkusen unter Vertrag. Und dort traf er den Brasilianer Jorginho. Er saß dabei im Bibelkreis der Bayer-Profis. Fast immer. "Mein tiefer Glaube ist nicht einfach strukturiert", beschrieb Herrlich einmal. "Wenn es einen Gott gibt, dann sicher nicht als Wunschmaschine." Wie die Heirat mit seiner Frau Sangita eine Wende in seinem Leben. Viele Kollegen fanden ihn dadurch nicht sympathischer, auch weil er fast nie über sein Privatleben redete. Die Tür blieb zu, der Mensch Herrlich verschlossen. Sein Innenleben geht die bunte Fernsehwelt des Fußballs nichts an. Vom Etikett des seltsamen Heiligen bis zum Geldgeier, er hat alles durchgemacht. Als er sich aus einem laufenden Vertrag in Mönchengladbach herausklagte, um wegen der sportlichen Perspektive und dem besseren Gehalt nach Dortmund zu wechseln, prasselten Vorwürfe auf ihn herab. "Der schmutzigste Wechsel der Liga" schrieben die Zeitungen. Die jahrelang gültige Regel im Sport "ein Mann ein Wort" hatten ihren Glanz verloren. "Ich interpretiere Christsein auch so, dass es sich lohnt, um ein gegebenes Versprechen zu kämpfen", konterte Herrlich. Wieder fühlte sich er sich ungerecht behandelt. Gladbachs Manager Rolf Rüssmann hatte ein Versprechen gebrochen und ihn angeschwärzt. Beliebter hat ihn das alles nicht gemacht. "Ein komischer Typ. Der sitzt auf dem Klo und liest die Bibel", sagte einst Stürmer Martin Dahlin. Für Herrlich blieb es eine Gratwanderung zwischen Kommerz und Religion.

Als die Dortmunder an die Börse gingen und Aktien unters Volk streuten, ließ er sich vor den Werbekarren spannen und gestand: "Auch ich habe Aktien gekauft, bei so etwas muss man dabei sein." Seine Erkrankung gab er selbst öffentlich bekannt, weil die Borussia kurz vorher an die Börse gegangen war. Für ihn eine Selbstverständlichkeit, für andere verstärkte der Auftritt die Zweifel an der Ehrlichkeit des Christen Herrlich. Er reagiert mit Trotz auf solche Anschuldigungen. Er hat gelernt, Rückschläge wegzustecken und die Anfeindungen zu parieren. Heiko Herrlich ist im Laufe der Jahre zu einem Stehaufmännchen geworden, der eine Portion Egoismus in die Waagschale werfen kann. Immer wieder musste er aufstehen nach den vielen Verletzungen, den Operationen und einer Gelbsucht. "Sein starker Wille ist seine ausgeprägteste Eigenschaft. Da geht er mit dem Kopf durch die Wand", sagte seine Mutter Erika.

Diesmal ist es eine besonders dicke Wand für den Menschen und den Fußballspieler Heiko Herrlich. Nun gibt es Hoffnung. Es sind positive Nachrichten, die ihm neuen Mut gemacht haben. Aber es bleibt ein Berg an Angst und Ungewissheit. Gewinnt er seinen Kampf gegen den Tumor? Wird er wieder völlig gesund? In Dortmund haben sie alles getan, um ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er nicht alleine kämpft. "Ich bin optimistisch, wieder für den BVB spielen zu können", sagte Herrlich. "Ich denke an keinen anderen Verein." Und das hat ihm nicht nur in Dortmund in diesem Moment jeder als ehrliches Gefühl abgenommen.

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