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Sport: In Trance

Statt sich mit dem Unentschieden zufriedenzugeben, wollen die Schweizer unbedingt mehr. Als ihr letzter Angriff scheitert, bleiben sie stehen – und kassieren das entscheidende Tor

Die Bedächtigkeit gehört zum Schweizer Klischee wie die Kuh auf der Alm. In Basel aber gibt es weder Almen noch Kühe, und mit der Bedächtigkeit war das auch so eine Sache, am späten Mittwochabend im St.-Jakob-Park. Wären sie doch ein wenig genügsamer gewesen. Die Schweizer Fußballspieler hätten sich mit einem Teilerfolg zufriedengeben können in diesem kuriosen Fußballspiel gegen die Türkei. Aber dieses eine Mal, beim größten Sportereignis in der Schweizer Geschichte, wollten sie nicht nur etwas, sie wollten alles. Kein Unentschieden mit der vagen Hoffnung auf eine Qualifikation für das EM-Viertelfinale. Sondern einen Sieg und damit die Position des Gestaltenden. „Vielleicht habe ich mir vorzuwerfen, dass ich letztlich nicht mit einem Punkt zufrieden war“, sagte Trainer Jakob Kuhn später. Vielleicht.

Wider die ihnen nachgesagte Mentalität suchten die Schweizer das Risiko. Den Sprung über den eigenen Schatten im Flutlicht dieser denkwürdigen, verregneten Nacht von St. Jakob. Ein letztes Mal rückten in der Nachspielzeit alle zehn Feldspieler auf über die Mittellinie. Philippe Senderos, der großartige Verteidiger vom FC Arsenal, er wollte das Siegtor erzwingen. Aber Senderos stand im Abseits, und der Schiedsrichter pfiff diesen letzten Sturmlauf ab. In diesem Augenblick, da sie die letzte Siegchance schwinden sahen, schalteten die Schweizer ihre Köpfe ab.

Doch das Drama war noch nicht vorbei. Es fing erst richtig an.

Mit schweigendem Entsetzen verfolgten die Zuschauer, wie die Türken mit zwei einfachen Pässen das Mittelfeld überbrückten. Die Schweizer kamen nicht mehr hinterher, wie in Trance registrierten sie Arda Turans Dribbling auf dem linken Flügel, seinen Schwenk in die Mitte, seinen Schuss. Wahrscheinlich wäre gar nichts passiert, hätte nicht Patrick Müller den Willen und die Kraft zu einem letzten Spreizschritt aufgebracht. Von Müllers Fuß abgefälscht nahm der Ball eine dramatisch veränderte Flugkurve. Er stieg so schnell, wie er wieder fiel, direkt hinter den Torhüter Diego Benaglio, der nicht einmal den Versuch einer Abwehr unternahm.

1:2 in der Nachspielzeit, die Schweiz war geschlagen, als erste Mannschaft hinauskomplimentiert aus dem daheim veranstalteten Turnier.

Der türkische Torhüter Volkan Demirel wendete sich um zum Schweizer Fanblock und klatschte höhnisch Beifall. Auf der anderen Seite, hinter dem Tor des glücklosen Benaglio, skandierten die türkischen Zuschauer „Auf Wiedersehen!“. Patrick Müller sprach vom „schlimmsten Moment meiner Karriere“ und Hakan Yakin, der in Basel geborene Sohn türkischer Eltern, versuchte die Enttäuschung in Worte zu fassen. Er scheiterte an den üblichen Worthülsen.

Es hätte sein großer Abend sein können. In der ersten Halbzeit hatte Yakin die Schweiz erst in Führung geschossen und kurz darauf das womöglich vorentscheidende 2:0 verpasst. Zu diesem Zeitpunkt war die Partie auf dem vom Dauerregen aufgeweichten Rasen ein Glücksspiel unter freiem Himmel. Zehn Minuten vor Schluss, als die Türken auf dem mittlerweile trockenen Platz längst die bessere Mannschaft waren, legte das Schicksal Yakin abermals die Möglichkeit auf den Fuß, das Land seiner Vorfahren nach Hause zu schicken. Vier Schweizer liefen gegen zwei Türken, Yakin kam frei zum Schuss, aber der war so zaghaft wie in der ersten Halbzeit sein Torjubel. Es war, als würde sich irgendetwas im Inneren des Schweizertürken dagegen wehren, ausgerechnet in diesem Spiel den Unterschied zu machen.

Am nächsten Morgen beklagte die Aargauer Zeitung „Das Ende aller Träume“. Die türkischen Zeitungen, verschont von der Versuchung, den verlorenen Sohn Hakan Yakin zum Verräter an der alten Heimat auszurufen, träumen schon vom ganz großen Coup. „Der Weg nach Wien ist geebnet“, kommentierte „Cumhuriyet“. In Wien steigt am 29. Juni das Endspiel, aber erst einmal kommt es am Sonntag in Genf zum Showdown mit den Tschechen. Sollte das direkte Duell der beiden punkt- und torgleichen Mannschaften unentschieden enden, würde im direkten Anschluss ein Elfmeterschießen darüber entscheiden, wer Portugal ins Viertelfinale begleitet. „Wir hatten zuletzt viele Endspiele, erst in der Qualifikation, jetzt hier gegen die Schweiz“, sagte der Münchner Hamit Altintop. „Anscheinend brauchen wir den Druck.“

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