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Sport: Japanisch bescheiden

Naoko Takahashi gewinnt – und entschuldigt sich

Vielleicht sollte jemand Naoko Takahashi noch einmal sagen, dass sie die bekannteste Sportlerin Japans ist. Vielleicht sogar die bekannteste Staatsbürgerin der Insel insgesamt. Dass sie „der Stolz der Nation“ ist, wie ein japanischer TV-Reporter mal begeistert gerufen hat. Und dass sie 2000 in Sydney Olympiasiegerin im Marathon wurde und beim Berlin-Marathon 2001 mit 2:19,46 Stunden Weltrekord lief. Wenn sie sich an all dies erinnerte, wäre die Chance bestimmt groß, dass sich die 30-Jährige nicht wie ein Niemand präsentiert, noch dazu einer, der sich ständig rechtfertigt.

Naoko Takahashi, „das Mysterium auf fliegenden Beinen“ (sagte der gleiche Fernsehmoderator wie oben), hat gestern den Berlin-Marathon gewonnen: in 2:21,48 Stunden. Sie hat neben der Siegprämie von rund 30 000 Dollar noch mal die gleiche Summe erhalten, weil sie unter 2:23 Stunden geblieben ist – und offenbar ist das etwas ziemlich Schreckliches. Die Zeit, nicht der Sieg oder das Geld. Dreimal bat Naoko Takahashi gestern um Entschuldigung, dass sie „keine bessere Zeit geliefert“ habe.

Bewegende Ansprache

Am Ende ihrer Pressekonferenz bedankte sie sich sogar in einer bewegenden Ansprache bei den „Journalisten aus aller Welt, dass sie wegen mir gekommen sind und über mich berichtet haben“. Vielleicht hat sie sogar überlegt, allen Journalisten, die über sie berichteten, eine Entschädigung zu zahlen. Sie hat ja hoch dotierte Werbeverträge, sie hätte es sich also leisten können. Nach ihrer Dankesrede standen zwei japanische Journalisten auf, klatschten und verbeugten sich. Und als Naoko Takahashi sagte: „Ich würde mich freuen, wenn ich auch 2003 hier laufen könnte“, da klatschten auch noch deutsche Reporter.

Zuvor hatte die zierliche Japanerin gesagt, dass sie froh sei, ins Ziel gekommen zu sein. Bei Kilometer 28 war sie der Mexikanerin Adriana Fernandez, die später Zweite wurde, weggerannt. „Aber eigentlich hatte ich nicht vor, Frau Fernandez anzugreifen.“ Frau Fernandez! Höflicher geht es nicht. Naoko Takahashi wirkt manchmal, als kokettiere sie mit ihrer Bescheidenheit. Sie ist aber, sagen Leute, die sie kennen, wirklich so, und deshalb in Japan sehr beliebt. Auch wenn manche tadeln, dass die Olympiasiegerin „Japan-Pop“ hört und Vuitton-Taschen trägt. Andererseits ist Takahashi deshalb auch unter den Jugendlichen so anerkannt. Es bleibt unklar, ob die betonte Zurückhaltung nur Zeichen ihrer außergewöhnlichen Bodenhaftung ist oder Teil einer besonderen Demut.

Unter dem Druck der Öffentlichkeit

In Japan jedenfalls kann die Marathon-Läuferin auf der Straße keinen Schritt machen, ohne erkannt zu werden, und als ihr Trainer Yoshido Koide seine Erfahrungen mit der Vorzeigesportlerin als Buch veröffentlichte, wurde das Werk mit dem Titel „Du kannst es schaffen“ mehr als 700 000 Mal verkauft.

Die wiederholten Entschuldigungen zeigen aber auch, unter welchem Druck sie steht. Sie muss nicht bloß siegen, sie muss auch noch Weltrekorde laufen. Auf den ersten fünf Kilometern lag die Sportlerin unter der Weltrekord-Zwischenzeit, und vielleicht diktierte die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit und der Medien dieses Tempo. Aber sie hatte nur drei Monate trainiert, „und weil ich mich nicht optimal fühlte, habe ich das Tempo etwas zurückgenommen“.

In ein paar Wochen läuft Takahashi in Tokio Marathon. Es ist „eine Herausforderung“, sagt sie. Sie wird wohl gewinnen, aber das allein reicht ihr ja nicht. Sie läuft im eigenen Land, sie will wieder in Weltrekordnähe kommen. Besser gesagt: Sie muss. Sonst entschuldigt sie sich vermutlich fünf Mal. Und bestimmt wird sie in Tokio wie in Berlin wieder ihre beiden Talismane dabeihaben. Der eine ist geheim. Der andere ist der Ring ihrer verstorbenen Großmutter. Frank Bachner

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