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Champions am Ball. Das Halbfinale zwischen Potsdam und Duisburg (hier verfolgt Yuki Nagasto die Duisburgerin Sonja Fuß) machte dem Namen alle Ehre. Foto: dpa

© dpa

Sport: Jungs in den Strumpfhosen ihrer Mütter

Fußball bei Turbine Potsdam ist ein besonderes Spektakel – wegen der schnellen Spielerinnen und der höflichen Fans. Ein Besuch

Das sanfte Klirren eines Tamburins im Gästeblock macht es deutlich: Dies ist kein normales Fußballspiel, sondern ein „All German“-Champions-League-Halbfinalrückspiel. Und die Ladys des 1. FFC Turbine Potsdam und des FCR Duisburg liefern packende 90 Minuten, die dem großen Namen des Wettbewerbs alle Ehre machen. Gerade in der ersten Halbzeit schenken sich die Mannschaften nichts, und besonders Duisburg kämpft mit großem Einsatz: Die Spielerinnen stürzen in die Zweikämpfe, passen den Ball scharf und tyrannisieren das löcherige Potsdamer Mittelfeld nach Kräften.

Für mich sind aber die rund 4600 Potsdamer Zuschauer das eigentlich Entscheidende an diesem Sonntagnachmittag: Vor dem Spiel kommen sie eher kleckerweise an der S-Bahn-Station an, wandern leise zum Stadion herüber, wo sie dann in Einer- oder Zweier-Gruppen Platz nehmen. Nirgendwo sieht man grölende „Fans“, keine Spur einer eng gewebten „Kurve“. Wenn sich ein sonniger Nachmittag bei Hertha im Olympiastadion wie ein Rockfestival anfühlt, gleicht das hier eher einem Straßenfest – und ich bin fast versucht, nach der Tombola und dem Kuchenwettbewerb Ausschau zu halten.

So weit, so Potsdam, sage ich zu mir, während ich mich zur Haupttribüne hinauf wage, die so sauber ist, dass man vom Boden essen könnte. Hier komme ich aber bald nicht umhin, festzustellen, dass Turbine Potsdams Fans eine komplexere Gemeinschaft sind als nur das Klischee einer sterilen Horde von Vorstadtmuttis. Denn man sollte es nie vergessen: Dies war mal ein anderes Land als die Bundesrepublik – und es bleibt auch als östlicher Teil der Bundesrepublik ein Land, das anders ist. Nirgendwo in Berlin kann man ein Ticket für Turbine kaufen, Potsdam selbst erlebt gerade eine schwere Identitätskrise, in Form einer rapiden Kolonialisierung durch extrem wohlhabende Stadtflüchtlinge aus Berlin. Für die Ureinwohner muss das eine beunruhigende Erfahrung sein. Ihr Verein ist ein Bollwerk gegen diese Entwicklung.

„Ich schreibe über Fußballkultur in Berlin“, erzähle ich dem Typen neben mir. „Sie meinen, in Berlin und Brandenburg“, korrigiert er mich. Damit fasst er zugleich zusammen, was Turbine Potsdam hier für viele alte Fans bedeutet. Allein das Wort „Turbine“ fördert verblasste Erinnerungen an Zeiten zutage, als die Region mehr war als nur Berliner Speckgürtel. Wer mag, darf es auch Ostalgie nennen, doch es ist eine stolze Vergangenheit, die von vielen so ignoriert wird – gerade am anderen Ende des Weges in Berlin.

Zurück ins Stadion: So, wie die Straßen von Potsdam eine seltsame Mischung aus Plattenbauten und renovierten Altbauten sind, so durchmischen die Tribünen im Karl-Liebknecht-Stadion silberhaarige Pensionäre mit mobilen 30-Somethings, die in die Potsdamer Seenlandschaft gekommen sind, um hier ihren Nachwuchs auszubrüten. Es gibt eine klare Dichotomie zwischen den neuen Fans des Klubs aus der Mittelschicht, deren Respekt vor der Idee des Frauenfußballs ihrer liberalen Erziehung entspringt, und den traditionellen Turbine-Fans, die Frauenfußball einfach als Tatsache akzeptieren. Männer, über deren Bäuchen sich Trikots spannen, die mit den Namen weiblicher Stars beflockt sind – aus emanzipatorischer Sicht ein so toller Anblick wie Jungs in den Strumpfhosen ihrer Mütter.

Beim Schlusspfiff danken die mit 1:0 siegreichen Turbine-Spielerinnen all ihren Fans gleichermaßen, mit der Dankbarkeit, die dem Fußball hierzulande den Gütestempel aufdrückt. Für sie zählt es kein Jota, wer ihnen zujubelt. Die Trennlinie in der verblüffenden Gemeinschaft ist fortgewischt, für einen Zeitraum, der so kurz sein mag, wie er will.

Falls es eine Lösung gibt für das Rätsel um Potsdams sich verändernde Identität, findet man es hier im Stadion. Vergangenheit und Zukunft stehen Schulter an Schulter in einer Atmosphäre der Höflichkeit, und die kniehohen Kids, die die Zukunft der Stadt repräsentieren, wissen herrlich wenig von Klassen- und Geschlechtergrenzen. Für sie gibt es an diesem sonnigen Nachmittag nur den Fußball – für Jung und Alt, Reich und Arm, Helden und Heldinnen. Eines Tages, das bleibt zu hoffen, wird ganz Deutschland die Welt durch ihre Augen sehen, und die eingebildeten Grenzen und Trennlinien, die man überqueren muss, um von Potsdam nach Berlin zu kommen, geraten in Vergessenheit.

Der Autor ist englischer Fußballkolumnist und lebt jetzt in Berlin. Für den Tagesspiegel schreibt er über Fußballkultur. Seinen Text übersetzte Johannes Schneider.

Titus Chalk[Potsdam]

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