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Sport: Länderspiel Ungarn - Deutschland: Balsam auf tausend Wunden

Als vor knapp zwei Wochen das Wankdorf-Stadion in Bern gesprengt wurde, war dies die Zerstörung einer Kultstätte des deutschen Fußballs. Der ungarische Fußball hingegen mag den Abriss der Arena wie ein Geburtstagsgeschenk der Schweizer Hauptstadt zu seinem hundertjährigen Jubiläum empfunden haben.

Als vor knapp zwei Wochen das Wankdorf-Stadion in Bern gesprengt wurde, war dies die Zerstörung einer Kultstätte des deutschen Fußballs. Der ungarische Fußball hingegen mag den Abriss der Arena wie ein Geburtstagsgeschenk der Schweizer Hauptstadt zu seinem hundertjährigen Jubiläum empfunden haben. Das Symbol für die bitterste Niederlage in dieser hundertjährigen Geschichte wurde rechtzeitig zu den dreitägigen Feierlichkeiten in dieser Woche platt gemacht. "Das 2:3 von Bern", schrieb einmal der ehemalige Sportjournalist und langjährige Präsident des Ungarischen Fußballverbandes, György Szepesi, in einem Artikel über Ungarns harte 40 Jahre danach, "war, auch wenn es wie eine Gotteslästerung klingt, wie eine kleine Katastrophe für die Nation". Dennoch lassen die Ungarn die bittere Nostalgie des verlorenen WM-Finales vom 4. Juli 1954 wieder aufleben. Jubiläumsgast sind am heutigen Mittwoch im Budapester Nepstadion die Enkel der Helden von Bern. Bei den Festakten und Empfängen vor dem Spiel wird von diesem legendären WM-Finale vor 47 Jahren immer wieder die Rede sein.

Mit traurigen Augen und tiefen Seufzern werden sich die Ungarn daran erinnern, wie damals ihr für unbesiegbar gehaltenes Wunderteam um den Major Puskas von Sepp Herbergers Männern geschlagen wurde. Bern sollte die Krönung einer beispiellosen Siegesserie werden. Seit 1950 waren die Ungarn in 32 Länderspielen in Folge ungeschlagen (26 Siege), waren 1952 in Helsinki Olympiasieger geworden und hatten 1953 in London zum ersten Mal eine englische Nationalmannschaft im eigenen Stadion geschlagen, England mit 6:3 geradezu deklassiert. Im WM-Turnier in der Schweiz hatten sie ihre magyarische Magie zelebriert, Deutschland im Gruppenspiel mit 8:3 gedemütigt, im Viertelfinale Brasilien mit 4:2 entzaubert und im Halbfinale den Titelverteidiger Uruguay 4:2 besiegt.

"Wir kamen wie die Sieger auf den Platz und hatten schon verloren", erinnerte sich der Mittelläufer dieser ungarischen Wunderelf, Gyula Lorant, während seiner Trainerzeit in der Bundesliga und war noch nach Jahrzehnten tief bedrückt. "Dann führten wir bald 2:0 und wurden noch gedankenloser. Da fiel das 1:2. Unsere Kraft ließ nach, unser Torwart wurde nervös. Am Ende hieß es 2:3. Wir hatten den Deutschen nur noch die biegsameren Kniegelenke voraus - sonst nichts." Den Hergang kann jeder Fußball-Freund aufsagen wie ABC-Schützen das Einmaleins: 1:0 Puskas (6. Minute), 2:0 Czibor (9.), 2:1 Morlock (10.), 2:2 Rahn (18.), 2:3 Rahn (84.) und Herbert Zimmermanns überschnappende Stimme: "Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!" Als Gustav Sebes, der Trainer der Ungarn, Sepp Herberger gratulierte, wusste der Bundestrainer, wie es im Inneren des Kollegen aussah: "Eine Welt war mit dem Spiel und seinem Ausgang versunken."

Erholt hat sich Ungarn von diesem Untergang nie mehr. Die Nachfahren von Fritz Walter und Toni Turek wurden zweimal Welt- und dreimal Europameister. Die Söhne und Enkel von Ferenc Puskas und Sandor Kocsis hingegen hat man seit 1986 bei keiner WM mehr gesehen. Und das wird wohl auch nächstes Jahr kaum anders sein. "Der ungarische Fußball blutet aus tausend Wunden", schrieb Szepesi anlässlich des letzten Länderspiels gegen Deutschland vor sieben Jahren im "Kicker" und beklagte vor allem Bestechung und Korruption, die gang und gäbe seien. Der ungarische Fußball versank in der Bedeutungslosigkeit. Ungarn brauche noch 15 Jahre, räumten Sportminister Tamas Deutsch und der Chef der Liga, Sandor Demjan, unlängst ein, um aus seiner tiefen Krise zu kommen und im internationalen Spitzenfußball wieder eine Rolle zu spielen. In der aktuellen Fifa-Weltrangliste nimmt das Land der Puskas, Kocsis und Hidegkuti Platz 51 ein, zwischen Island und Angola.

Umso erstaunlicher ist die Bilanz gegen Deutschland, weniger die absolute Ausgeglichenheit von jeweils zehn Siegen, Niederlagen und Unentschieden (61:60 Tore für Deutschland), sondern die Sieg- und Torlosigkeit der Deutschen in den vergangenen Jahrzehnten. Der letzte deutsche Sieg liegt 27 Jahre zurück (1974 5:0 in Dortmund), das letzte deutsche Tor fiel vor 18 Jahren (1983 1:1 in Budapest). Die Ergebnisse danach: 0:1 1985 in Hamburg, jeweils 0:0 1987 und 1994 in Budapest. Vielleicht wurden die Deutschen ja auch wegen dieser Hoffnung spendenden Bilanz eingeladen. Ein Jubiläumssieg wäre Balsam auf die tausend Wunden - auch wenn der Schmerz niemals ganz nachlassen wird.

Hartmut Scherzer

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