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Lange Gesichter am Zeugnistag. Viele Profis verstehen nicht, wie Medien ihre Leistung benoten,

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Leistungsdaten im Fußball: Die Not mit den Noten

Die Bewertung nach dem Schulprinzip 1 bis 6 ist so alt wie die Bundesliga. Und ärgert seither Profis. Nun könnten Computer das Geschäft übernehmen.

Die Note war in Stein gemeißelt. Besser gesagt: in Papier. Da konnte Dieter Schatzschneider so gut Fußball spielen wie er wollte. Auslöser war ein Zweitligaspiel 1980 bei Fortuna Köln, in dem der Stürmer von Hannover 96 ein Tor selbst erzielte und zwei weitere zum 3:0-Sieg vorbereitete. „War eine richtig starke Leistung von mir“, sagt Schatzschneider heute. In Erinnerung geblieben ist dem 57-Jährigen der Tag aber vor allem wegen der Bewertung, die ihm Deutschlands – damals wie heute – größte Boulevard-Zeitung seinerzeit gab: Note sechs, setzen! „Ich bin ein Heißsporn und wollte geklärt haben, wie man auf so einen Blödsinn kommt“, sagt Schatzschneider rückblickend, „also habe ich dem Reporter gesagt, dass ich ihn in der Mülltonne am Trainingsplatz versenke, wenn er so was nochmal macht.“ Das erwies sich als kontraproduktiv; die Sechs war erstmal reserviert für den Stürmer, selbst wenn ihm mit verbundenen Augen ein Hattrick gelungen wäre – die Rache eines Reporters.

So viel hat sich seither gar nicht geändert. Auch im 21. Jahrhundert gehört die Benotung von Spielern zur Fußball-Bundesliga wie strittige Abseitsentscheidungen oder verschluderte Torchancen. Seit der Bundesligagründung 1963 praktiziert das Fachmagazin „Kicker“ das Schulnotenprinzip, um seinen Lesern die Leistungen der Profis auf einen Blick einzuordnen. Aber auch Reporter vieler anderer Zeitungen verteilen mittlerweile im Stadion Noten von 1 bis 6, um den Lesern einen schnellen und verständlichen Überblick zu geben: Wie war mein Lieblingsspieler drauf? Wie mein Hassspieler? Und was heißt das für mein Manager-Spiel?

Die Note ist jedoch inzwischen viel mehr als Folklore an Stammtischen, als Stimmungs- und Leistungsbarometer für Fans. Sie ist wichtig geworden für Markt- und Markenwert einzelner Spieler – und ein Geschäftsmodell, mit dem sich Geld verdienen lässt. Und dank moderner Computer-Statistiken wird die menschliche Bewertung zunehmend automatisiert.

Die Mehrheit der Bundesliga-Profis betont zwar, ohnehin keine Zeitung dahingehend zu lesen und sich auch nicht um die Benotung zu scheren. Tatsächlich aber ist dies nur offizielle und nicht selten vom Pressesprecher des Vereins vorgegebene Doktrin. „Bei den Spielern ist das ein latentes Thema“, sagt Spielerberater Jörg Neblung, der aktuell 30 Klienten hat – unter anderem die Torhüter Timo Hildebrandt und Florian Fromlowitz. „Wir können nicht so tun, als ob es das nicht gibt“, betont Neblung, „die Nachfrage wird immer größer.“ Auch in anderen Ländern bewerten Zeitungen Spieler, oft mit 1 bis 10 Punkten, in Italien bekommen sogar Trainer Noten. Seit der vergangenen Saison verteilt der „Kicker“ bis hinunter in die Dritte Liga Zensuren.

Sogar bis in die Dritte Liga werden Zensuren verteilt

„Ich weiß ja selbst am besten, wie ich gespielt habe. Deshalb haben mich Noten nie wirklich interessiert“, sagt Torsten Mattuschka vom Drittligisten Energie Cottbus, „aber ich weiß auch, dass ich damit eher die Ausnahme bin.“ Vor allem zu seiner Zeit beim 1. FC Union, so berichtet der langjährige Kapitän der Köpenicker, habe es im Mannschaftskreis Kollegen gegeben, „die morgens um acht zum Kiosk gerannt sind, weil sie es sonst nicht mehr ausgehalten haben“. Womöglich hatten sie die Befürchtung, es könnte ihnen ergehen wie Dieter Schatzschneider vor 25 Jahren: gut gespielt und trotzdem schlecht bewertet – weil Bewertungen immer subjektiv sind und die Note im Grunde ein Meinungsbeitrag des Journalisten ist, vergleichbar mit einem Kommentar. Und dass ein Spieler sich oft besser gesehen hat, gehört zur Natur der Sache.

Der Schulvergleich liegt durchaus nahe. Wer kann sich nicht erinnern an Lehrer XY, der den Lieblingsschüler mit Noten belohnte und die Störenfriede gern damit bestrafte? Im Fußball geht es ähnlich zu: Die Spielernote basiert auf der subjektiven Wahrnehmung einzelner Reporter vor Ort, die so unterschiedlich ticken können wie ihre Medien. „Im Grunde gibt es fast jedes Wochenende Ärgernisse“, sagt Spielerberater Neblung, „oft ist es so, dass die Noten zwischen Lokalpresse und Fachmagazin kolossal differieren.“ Das wiederum hängt nicht zuletzt mit den Mitteln zusammen, die Zeitungsverlage noch für die Besetzung einzelner Spiele aufwenden können respektive wollen. Im schlechtesten Fall schreibt ein Journalist seinen Spielbericht aus dem Stadion, beobachtet auf einem anderen Bildschirm die sozialen Medien und bewertet obendrein noch 22 Spieler. Vom Spiel kann er da nicht viel sehen. Logisch, dass darunter das Einschätzungsvermögen leidet.

In besonders krassen Fällen ruft Neblung sogar in den Redaktionen an . „Wir streiten uns jetzt nicht über eine Note“, sagt der Spielerberater, „aber wenn die Diskrepanz zu groß ist, muss ich der Sache im Interesse meiner Spieler natürlich auf den Grund gehen.“ Was ist da vorgefallen? Gibt es vielleicht ein persönliches Problem mit einem seiner Spieler? Vor allem an kleineren Bundesliga-Standorten, wo sich Reporter und Spieler noch näher stehen, kommt das häufiger mal vor.

Beschwerdeanrufe von Spielern oder Beratern in der Redaktion sind keine Seltenheit

Beschwerdeanrufe in der Redaktion, das kennt auch Jörg Jakob aus der Chefredaktion des „Kicker“. „Spielernoten sind bei uns jede Woche ein zentrales Thema, mit dem sich die Redaktion, aber auch viele unserer Leser detailliert beschäftigen“, sagt Jakob, „wir werden nun mal als Fachmagazin wahrgenommen.“ Deshalb besetzt der „Kicker“ jedes Bundesliga-Spiel mit mindestens zwei Redakteuren, die sich als ständige Beobachter der beteiligten Vereine gut auskennen, die Stärken und Schwächen, Vorlieben und Macken der Spieler und Trainer kennen. Darüber hinaus gebe es eine „interne Kontrolle“, wie Jakob sagt, sprich: Die Redakteure im Verlagshaus in Nürnberg verfolgen die Spiele am Fernseher und stimmen die Noten im Anschluss mit den Kollegen im Stadion ab. „Unser Anspruch muss es sein, so sachlich und seriös zu arbeiten, wie wir es schon 1963 getan haben.“

Denn Fehlurteile fallen gerade in Zeiten des gläsernen Profis immer mehr auf. In Zeiten des Statistikwahns sind unzählige neue Bewertungsmaßstäbe und Leistungskriterien dazugekommen: Passquote, Zweikampf- und Ballbesitzwerte, Laufleistungen eines Teams und Kilometerzähler, die zumindest objektiver wirken. Daraus kann jeder Fußballfan seine eigenen Schlüsse ziehen, ohne das ganze Spiel gesehen zu haben. Außerdem sind die Zeiten, in denen nur der „Kicker“ und die „Bild“ Noten verteilt haben, längst vorbei: Agenturen beliefern Lokalzeitungen mit bunten Statistiken und auch Noten. Aus der maschinellen Bewertung ist längst ein Geschäft geworden.

Einer dieser Dienstleister ist die Firma „Deltatre“. Für das Software-Unternehmen mit Sitz in München ist die Spielerbenotung „zu einem recht gefragten Nebengeschäft geworden“, sagt Marketing-Manager Fabian Winckler. „Deltatre“ verfolgt dabei einen komplett anderen Ansatz als etwa der „Kicker“. Basierend auf einer seit über 20 Jahren geführten Datenbank hat das Unternehmen einen Algorithmus geschrieben, der aus über 30 Leistungsdaten wie Zweikämpfen und Torschüssen, aber auch schweren Fehlern eine individuelle Note berechnet. Theoretisch könnte das Programm sogar eine Halbzeit-Note ausspucken. „Unsere Note spiegelt keine subjektive Meinung wieder“, sagt Winckler. „Ich will sie deshalb nicht über alle anderen stellen, aber sie ist in jedem Fall eine gute und schnelle Variante.“

Der Mensch entfällt damit als Maßstab. Hat die Note also bald komplett ausgedient? Oder wird sie durch Computer nur besser, weil wissenschaftlicher?

Jörg Jakob vom „Kicker“ kann diesem Modell naturgemäß nicht viel abgewinnen. „Ein Fußballspiel ist für mich viel mehr als die Summe von Algorithmen“, sagt er, „zumal das Programm eine wesentliche Frage außer Acht lässt: Welche Aufgaben hat der Trainer seinem Spieler überhaupt aufgetragen?“ Wenn etwa ein defensiver Mittelfeldspieler nicht einmal die Mittellinie überquert, wirkt sich das im Normalfall nicht gerade positiv auf seine Note aus – sofern ihm sein Trainer nicht genau diese taktischen Vorgaben mit auf den Weg gegeben hat. „Das kann kein Computer errechnen, dafür braucht man Fachwissen“, sagt Jakob. Für ihn haben das nur die Reporter – so wie sie idealerweise auch einen guten Draht zum Trainer haben. Bis vor ein paar Jahren war es durchaus üblich, dass sie kurz vor dem Anpfiff noch einmal detailliert die Taktik mit dem Trainer durchgegangen sind.

Apropos alte Zeiten. Dieter Schatzschneider hat erst kürzlich jenen Reporter wiedergetroffen, der ihn damals vor 25 Jahren so negativ benotet hat. „Und wir haben uns ganz gut unterhalten, auch wenn er weiterhin bestreitet, dass in meinem Fall Politik dahinter stand.“ In der Mülltonne am Trainingsplatz hat ihn Schatzschneider aus Gründen der Altersmilde trotzdem nicht versenkt.

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