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Granitonkel. 20 Meter hoch müssen die Menschen in Charkiw zu Lenin aufschauen. Foto: dapd

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Sport: Lenin lässt die Stadt nicht los

Charkiw hat sich nicht völlig von Sowejtzeiten gelöst. Hollands Fans ist das egal – sie feiern auch so.

Lenin ist auch noch da. Mitten im Zentrum von Charkiw, auf dem Majdan Swobody, dem Freiheitsplatz. Lenin thront auf einem Podest aus Granit und schaut aus 20 Metern Höhe ein wenig irritiert auf das Durcheinander von Zelten, Dixi-Klos, Bier- und Imbissständen. Scheinbar anklagend zeigt sein ausgestreckter Arm hinab zu den singenden und lachenden und tanzenden Menschen, alle tragen sie Hemden, Hosen und Röcke in dieser gefährlichen, dieser revolutionären Farbe. Und das unter Lenins Augen. Nichts gegen Revolutionen, er hat ja auch eine angeführt, aber die war rot.

Von Renate Künast stammt die lustige Idee, Deutschlands Fußballspieler, Funktionäre, Fans und so weiter mögen doch im Sinne eines auch politisch korrekten Auftritts bitte mit orangefarbenen Schals durch die Ukraine spazieren. Na, das wäre ein schöner Abgrund von Landesverrat gewesen! Bei der Europameisterschaft im Allgemeinen und ganz besonders heute beim zweiten Vorrundenspiel in Charkiw, einer sonst eher grauen Industriestadt, die zur Europameisterschaft in einem so grellen Orange leuchtet wie sonst nur Apfelsinen. Nein, keineswegs in Gedenken an die Orange Revolution von 2004, an Timoschenko versus Janukowitsch. Die holländische Nationalmannschaft tritt hier zu ihren drei Vorrundenspielen an. Geschätzt 300 000 Fans aus Amsterdam und Rotterdam und Eindhoven bevölkern Charkiw in diesen Tagen, und es hätte schon einen seltsamen Eindruck gemacht, wenn dann auch noch die Deutschen in der Farbe von Team Oranje aufmarschiert wären.

Mit 1,5 Millionen Einwohnern ist Charkiw die zweitgrößte Stadt der Ukraine und diente ihr zu sowjetischen Zeiten zwischen 1919 und 1934 als Hauptstadt. Das lag vor allem daran, dass die russische Grenze nur 50 Kilometer weit entfernt ist. Weiter im Westen träumten und kämpften die Ukrainer damals für einen unabhängigen Staat. Eine Hauptstadt Kiew erschien Lenin und seinem Gefolge in den frühen Zeiten der Sowjetmacht nicht geheuer. Charkiw war politisch voll auf der Linie und ist es noch heute. Nicht zufällig hat Staatspräsident Viktor Janukowitsch die prominenteste politische Gefangene in ein Gefängnis im Charkiwer Stadtteil Komintern einweisen lassen.

Zurzeit liegt Julia Timoschenko ein paar Straßen weiter im Eisenbahner-Krankenhaus der Stadt. Ihr Krankenzimmer ist eine Weihestätte vor allem für Journalisten aus dem Westen mit ihren Kameras und Mikrofonen und viel Geduld. Ukrainische Protestler finden sich kaum in dieser trostlosen Straße dieses trostlosen Außenbezirks. Das Hochgefühl der Orangen Revolution, es ist längst verflogen. Wer die Menschen in Charkiw auf Julia Timoschenko anspricht, bekommt ausweichende, gelangweilte aber auch genervte Antworten. „Die ist doch auch nicht besser als Janukowitsch!“ – „Wo hat die Frau eigentlich ihr Vermögen her?“ – „Wir haben hier andere Probleme!“

Da ist was dran. Zwar zählt Charkiw noch immer zu den Orten mit der höchsten Lebensqualität in der Ukraine, aber seit der Weltfinanzkrise schwindet der bescheidene Wohlstand. Bettelnde Rentner zählen zum Stadtbild wie bröckelnde Fassaden. Manche Bezirke müssen von Tanklastern mit Trinkwasser versorgt werden, weil die Leitungen rosten. Und was den urbanen Charme betrifft: Die holländische Nationalmannschaft gastiert dreimal innerhalb von acht Tagen in Charkiw und hat ihr Trainingsquartier doch lieber 1400 Kilometer weiter westlich im polnischen Krakau aufgeschlagen. „Alles okay hier, das Hotel ist sehr gut, aber wir fliegen doch lieber nach dem Spiel zurück“, sagte Trainer Bert van Marwijk nach dem 0:1 am Samstag gegen Dänemark. Dass die Holländer spät am Abend infolge eines technischen Defekts noch eine Stunde auf dem neuen Flughafen im Süden der Stadt festsaßen – sei’s drum.

Charkiw lebt mit dem Erbe einer sowjetischen Musterstadt, die nach ihrer Zerstörung als Panzer- und Traktorenschmiede aufgebaut wurde, vorwiegend von Arbeitern aus Russland. Ukrainisch sprechen die wenigsten Einwohner, sie nennen ihre Stadt auch nicht Charkiw, sondern russisch Charkow. Die Metro-Stationen tragen die Namen von Roter Armee und Marschall Schukow, von Puschkin und Gagarin. Es gibt eine Straße zu Ehren des „Heldenhaften Stalingrads“. Und Lenin ist auch noch da. Mitten im Zentrum, auf dem Majdan Swobody, dem Freiheitsplatz.

„So, Sie wollen zum Majdan?“, fragt eine Frau im U-Bahnhof Uniwersytet. Sie lacht. „Den werden Sie schwer verfehlen. Einfach die Treppe rauf. Viel Glück!“ Den Weg weist der orange Strom von Fußballfans. Auf dem Majdan Swobody befindet sich die Charkiwer Fanmeile, und die ist fest in holländischer Hand. Das bekommt dem Platz ganz gut, denn er ist der größte in Europa und wirkt als Schauplatz des orangen Durcheinanders endlich einmal nicht so öde wie zwölf Hektar innerstädtische Leere für gewöhnlich nun mal wirken. Es ist eine schöne Rechenaufgabe für Charkiws Grundschüler, wie viele Fußballplätze auf den Platz passen. Kleiner Tipp: reichlich. Mehr als eine Fußballmannschaft Spieler hat. Aber für zwei Mannschaften reicht es auch nicht ganz.

Am unteren Ende des Platzes mit dem vielen Platz türmt sich das Derzprom auf, das Haus der Staatlichen Industrie; zur Eröffnung 1929 war es das größte Gebäude Europas und wurde von Wladimir Majakowski als „stählernes Band“ des „zur ukrainischen Hauptstadt erwachten“ Charkiw gepriesen. Nebenan steht ein riesiges Bauwerk der Universität im Zuckerbäcker-Stil, in dem sich niederländische Edelfans eingemietet haben. Lenin thront in der Mitte des Platzes. Weil Charkiws PR-Strategen wissen, dass so ein Relikt aus sowjetischen Zeiten im Westen nicht besonders gut ankommt, haben sie Lenin aus ihren Fernseh-Trailern zur EM in bester sowjetischer Tradition rausretuschiert.

Charkiws politischer Elite wäre es gewiss lieber gewesen, wenn das Los statt der Holländer die Spanier mit ihren roten Leibchen als Gruppenkopf ins Metallurg-Stadion delegiert hätte. Vorsichtshalber haben sie die 42 (!) Hochschulen der Stadt eine Woche früher geschlossen. Offiziell, um in den Studentenheimen Platz zu schaffen für die vielen orangen Gäste, aber gewiss auch, um der nachwachsenden Intelligenz nicht zu viel politische Verbrüderung mit den liberalen Holländern zu ermöglichen.

Rund um den Majdan Swobody bezieht in diesen Tage auffällig viel Ordnungsmacht Stellung. Alle paar Meter stehen Grüppchen von Polizisten und Miliz. Die einen in dunkelblauen Uniformen und Schirmmützen, die anderen in hellblau gescheckten Tarnanzügen und weinroten Baretten. Allen gemein sind die verschwitzen Gesichter, und ein paar von ihnen schauen über ihre Schlagstöcke hinweg sehnsüchtig zu den biertrinkenden Fußballfans in der gefährlichen, der revolutionären Farbe.

Vielleicht suchen sie aber auch nur Renate Künast.

Julia Timoschenko liegt hier im Krankenhaus, die Leute registrieren es achselzuckend

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