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Live aus dem ELFENBEINTURM: Lingor müsste schießen … Mit dem Frauen-Finale von Schanghai beginnt

eine neue Epoche des Weltfußballs

Es waren durchaus nicht nur Männer, die den Frauenfußball miesmachten. So behauptet die Schriftstellerin Virginia Woolf in ihrem legendären feministischen (!) Essay „Ein eigenes Zimmer“ von 1928 wiederholt die naturgegebene „Unfähigkeit der Frau zum Fußballspiel“. Ein historisches Fehlurteil, das der feinen Engländerin heute gewiss die Schamesröte ins Gesicht treiben würde. Denn spätestens mit der WM 2007 ist der Fußball auch bei den Frauen zur weltweit führenden Ballsportart aufgestiegen. Sein ästhetischer wie athletischer Eigenwert steht außer Frage, weshalb das heutige Finale zwischen Deutschland und Brasilien auch das meistwahrgenommene weibliche Mannschaftsspiel aller Zeiten sein wird. Mit ein wenig Willen zur feuilletonistischen Überspitzung lässt sich gar behaupten, dass sich in diesem WM-Endspiel die beiden wichtigsten soziokulturellen Veränderungen der vergangenen hundert Jahre konzentrieren: zum einen die Emanzipation der Frau, zum anderen die Ausbreitung des Sports, insbesondere des Ballsports, zum global dominanten Freizeitmedium. Wer also wollte voraussagen, welch geniale Erneuerungen und Innovationen diese beiden Prozesse in Zukunft hervorrufen werden?

Dem historischen Schicksal weiblicher Genialität geht auch Virginia Woolf in ihrem bereits erwähnten Essay nach, etwa, indem sie William Shakespeare eine literarisch gleichermaßen begabte Schwester „Judith Shakespeare“ andichtet und die Frage stellt, welche Chancen diese Frau im ausgehenden 16. Jahrhundert gehabt hätte, ihr geniales dichterisches Talent zu leben und ins Werk zu setzen. Keine. „Judith Shakespeare“, argumentiert Woolf, wäre erst verspottet, dann vom Theater verwiesen, schließlich geschwängert und dann aus Verzweiflung in den Selbstmord getrieben worden. Nahe liegt, das Woolf’sche Experiment von der Literatur in den Bereich des Fußballs und damit tief ins 20. Jahrhundert zu übertragen. Welche Möglichkeiten, ließe sich fragen, hätten angenommen hoch talentierte Schwestern von Pelé, Beckenbauer und selbst noch Maradona gehabt, ihr einzigartiges weibliches Fußballgenie zur Meisterschaft zu führen?

Genau erinnere ich mich an das kleine Mädchen, das unser D-Jugend-Team in der Kreismeistersaison von 1982 bei jedem Spiel und Training begleitete. Sie hieß Renate und war die Tochter unseres Trainers. Sobald wir Dorfstars den Platz des badischen SV Blankenloch betraten, um für unsere zweifellos nahenden Profikarrieren zu trainieren, stibitzte sie sich einen Ball und begann, am Spielfeldrand ganz für sich zu dribbeln, zu schießen und zu jonglieren. Sie hatte Talent, das sah jeder sofort. Aber ach, was wollte das Mädchen nur! Würde es nicht bald vom Fußball lassen, tuschelten die Eltern, wäre sein Weg vorgezeichnet. Erst verspottet, dann vom Platz gejagt und schließlich geschwängert von irgendeinem alkoholkranken Bezirksliga-Narren.

Was wussten sie schon. Renate ließ sich die Liebe zum Fußball von nichts und niemandem nehmen, fand einen Verein und kompetente Förderer. Und während unsere brillante Kreismeisterriege von einst nach mäßigen Karrieren heute verzweifelt gegen die eigene Verfettung kämpft, läuft Renate Lingor heute im Trikot mit der Nummer 10 als Spielmacherin der deutschen Nationalmannschaft im Finale von Schanghai auf.

Mit feinster Technik und vollkommenem Situationsgespür ist sie ein wahres Fußballgenie. Und genau wie die Brasilianerinnen Marta und Andrea, wie Birgit Prinz und Nadine Angerer gehört sie zur allerersten Generation von Fußballerinnen, denen es möglich wurde, ihr Talent auf die Höhe eigener Möglichkeiten zu führen. Mehr als wahrscheinlich, dass diese Frauen – oder die Millionen Mädchen, die ihren Idolen heute am Fernseher zusehen – die Gestalt des Weltfußballs schon bald auf ganz ähnliche Weise bereichern und erneuern werden wie Virginia Woolf einst die Weltliteratur.

Also, beste Renate, erhöre meine ehrliche Fanbitte: Stibitz dir den Ball und hau das Ding aus dreißig Metern volley in den Winkel! Tu es für „Judith Shakespeare“, für „Ingeborg Beckenbauer“ und „Conchita Maradona“ – und natürlich für mich und uns alle. Du hast das drauf. Und nie war der Zeitpunkt günstiger.

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