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Sport: Rambo im Büßerhemd

Marco Materazzi provozierte im WM-Finale den legendären Zinedine Zidane zu dessen Kopfstoß. Der Italiener sagt, er habe aus seinen Fehlern gelernt, doch die Vergangenheit holt ihn auch bei der EM ein

Was heißt eigentlich Bettfedernfabrik auf Italienisch? Mit Langenscheidts Hilfe könnte man daraus eine „Fabricca di Piumi di Letto“ machen, aber weil eine so schöne Sprache einen so seltsamen Begriff nicht kennt, nennen die Italiener ihr EM-Hauptquartier einfach „Casa Azzurri“. Das hat sich bei der WM vor zwei Jahren in Duisburg bewährt, also gibt es auch im niederösterreichischen Städtchen Oberwaltersdorf ein blaues Haus, dieses Mal in den Räumlichkeiten des Bad Waltersdorfer Kulturzentrums mit dem kuriosen Namen, gut 50 Kilometer südlich von Wien.

Die Tür geht auf, und ein Papagei flattert in die Bettfedernfabrik. Die Fotografen und Kameraleute springen auf, sie rufen „Marco, Marco!“ und drängeln sich um die besten Plätze. Marco Materazzi hebt zum Gruß den rechten Arm. Der ist mit allerlei Tattoos verziert, der linke auch, und mit ein bisschen guten Willen sehen diese bunt bemalten Arme aus wie die Flügel eines Papageien.

Materazzi steckt in einem kleinen Dilemma. Ganz unverhofft gehört er wieder zur Stammelf des Weltmeisters, das freut ihn, aber er hütet sich davor, diese Freude allzu demonstrativ zu zeigen, denn die Umstände sind nicht danach. Vor ein paar Tagen hat sich Fabio Cannavaro im Training schwer verletzt. Die EM ist für den italienischen Kapitän gelaufen, und den frei werdenden Platz in der Innenverteidigung wird beim EM-Auftaktspiel heute gegen die Niederlande wohl Materazzi einnehmen.

Es ist ein bisschen wie vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft in Deutschland, als Materazzi zunächst nicht für die erste Elf eingeplant war und vom Pech eines anderen profitierte. Im letzten Gruppenspiel gegen Tschechien verletzte sich der großartige Alessandro Nesta. Materazzi kam ins Spiel und startete eine außergewöhnliche WM-Kampagne. Er schoss gleich ein Tor, flog im Achtelfinale gegen Australien zu Unrecht vom Platz, verursachte im Finale gegen Frankreich einen berechtigten Elfmeter, schaffte später den Ausgleich und provozierte in der Verlängerung Zinedine Zidane zu dessen wohl spielentscheidender Tätlichkeit. Doch über Zidane will er jetzt nicht reden, sondern über Cannavaro. „Seine Verletzung ist ein schwerer Schlag für uns“, sagt Materazzi, „vor allem für mich persönlich, denn Fabio ist wie ein Zwillingsbruder für mich.“

Das ist ein auf den ersten Blick lustiges Bild, denn Bruder Marco ist einen Kopf größer als Bruder Fabio. Auf dem Platz aber haben sie bei der WM in der Tat wie ein Zwillingspaar harmoniert. Die italienische Innenverteidigung Materazzi/Cannavaro kassierte aus dem Spiel heraus kein einziges Tor, und hauptsächlich dieser Qualität verdankte Italien den unerwarteten Triumph von Berlin. Die Rollen aber waren denkbar einseitig verteilt. Fabio Cannavaro war der gute Junge, der Stolz der Eltern, der annähernd ohne Foul auskommende Verteidiger, später zum Weltfußballer des Jahres gewählt. Materazzi spielte den Part des bösen Buben, der den weltweit verehrten Zidane in dessen letztem Spiel für Frankreich bis aufs Blut reizte und zum verhängnisvollen Kopfstoß provozierte.

Bei Materazzis Provokation handelte es sich um eine belanglos-geschmacklose Bemerkung über Zidanes Schwester, wie sie heute auf jedem Neuköllner Grundschulhof vorkommt. Aber im Falle Zidane/Materazzi endete sie in einer außergewöhnlichen Umkehrung des Täter-Opfer-Prinzips. Der Franzose wurde als konsequenter Rächer gefeiert, der Italiener als übler Provokateur angefeindet.

Daran hat sich bis heute wenig geändert. In der Bettfedernfabrik will ein Reporter wissen, wie er sich denn vor dem Spiel gegen Frankreich fühle. Tranquillo, tranquillo, Materazzi lächelt milde, „jetzt spielen wir erst mal gegen die Niederlande, dann gegen Rumänien, danach können wir gern über Frankreich reden“. Er freue sich auf ein mögliches Duell mit dem Holländer Ruud van Nistelrooy, „ein hervorragender Stürmer, ich habe leider noch nie gegen ihn gespielt“.

Er hat ohnehin nicht so oft gespielt in dieser Saison, gerade 16 Mal für Inter Mailand in der Serie A, was zum einen an ein paar Verletzungen lag, zum anderen an einer viel diskutierten Formschwäche. Als Materazzi am vorletzten Ligaspieltag kurz vor Schluss in Siena einen Elfmeter verschoss und damit seinen Klub Inter um den vorzeitigen Titelgewinn brachte, warf ein wütender Fan seinen Fernseher aus dem Fenster.

Es war ein untypisches Jahr für Materazzi. Eines ohne Platzverweis. Nicht erst seit dem Rencontre mit Zidane gilt er als der Mann fürs Grobe. Im Internet kursieren Video-Zusammenschnitte seiner brutalsten Fouls. Materazzi winkt ab. Alles lange her, „diese Videos werden seit ein paar Jahren gezeigt. Ich weiß, dass ich einiges falsch gemacht habe, aber ich habe aus meinen Fehlern gelernt.“

Ob José Mourinho das auch so sieht? Von Inters neuem Trainer heißt es, dass er sehr gern seinen portugiesischen Landsmann Ricardo Carvalho vom FC Chelsea nach Mailand transferieren würde. Damit wäre Materazzi Stammplatz in der Innenverteidigung in Gefahr. Wieder lächelt der italienische Hüne. „Ich habe von Mourinho bisher nur das Beste gehört. Auch ich werde mein Bestes tun, um zur ersten Elf zu gehören.“ Nein, mit einem Vereinswechsel habe er sich noch nicht beschäftigt, „denn Inter ist mehr als ein Verein für mich, es ist meine Familie“. Vor einem Jahr hat er seinen Vertrag bis 2010 verlängert.

Damals war er noch der beste Verteidiger Italiens. Und heute? Mit bald 35 Jahren? „Ich bin immer noch dieselbe Person.“ Materazzi lächelt immer noch, aber sein Ton ist ernster geworden. Ein Wipfel seines schwarzen Haars hat den Kampf gegen das Gel gewonnen und ragt nach vorn. Marco Materazzi erinnert jetzt nicht mehr an einen Papageien, sondern an einen angriffslustigen Hahn. Der Mann weiß, was er der Bettfedernfabrik schuldig ist.

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