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Resümee der Gastgeber: (K)ein Märchen

Mit Österreich und der Schweiz scheiterten die Gastgeber schon in der Gruppenphase. Zurück blieben Ernüchterung und leere Public-Viewing-Plätze - richtig gefeiert wurde nur im Land des Sommermärchens.

Es gibt Sätze über Fußball, die darf in Deutschland eigentlich nur einer sagen. Wenn aber der Kaiser verhindert ist, darf auch mal der König ran. Und so sprach Otto Rehhagel nach dem Vorrunden-Aus von da noch Noch-Europameister Griechenland milde lächelnd ins Mikrofon von ZDF-Reporter Rolf Töpperwien: „Ein Wunder heißt Wunder, weil es nicht alle 14 Tage stattfindet, sonst wäre es ja kein Wunder.“ Wie wahr. Und Märchen erzählen stets etwas Vergangenes. Deshalb beginnen sie auch mit „Es war einmal...“ Auch Sommermärchen. Obwohl ... Es war einmal ein Juni-Abend in Basel, die EM war gerade fünf Tag alt, da brauten sich gegen 20.45 Uhr dunkle Wolken über der Stadt zusammen. Dennoch strömten Tausende Richtung Rhein, gekleidet in rot-weiß-rote Gewänder und mit einem lustigen Schlachtruf auf den Lippen: „Hopp Schwiiz!“ Da lag ein Hauch von WM-Sommer 2006 in der Luft. Dann platzte ein sinftflutartiger Regen auf die Public-Viewing-Areas der Stadt - und 93 Spielminuten später der EM-Traum der Schweiz. Das 1:2 der Eidgenossen in der Nachspielzeit gegen die Türkei beendete bei dem Vielvölker-Völkchen einen Traum, an den die meisten Schweizer ohnehin nie richtig geglaubt haben.

Entsprechend gelassen gingen sie zur Tagesordnung über: 15 Minuten nach dem Scheitern döste ein deutscher Polizist in seinem Mannschaftswagen in der Baseler Innenstadt; die Beamten waren zur Verstärkung aus der Bundesrepublik angefordert worden, doch eine Viertelstunde nach Spielschluss war die City schon fast menschenleer. Menschentrauben vor Riesenleinwänden, Soldaten, die Spalier stehend den Teambus des eigenen Landes mit der „La-Ola“-Welle empfangen, dazu ein strahlend blauer Himmel - das alles war die Fußball-WM 2006 in Deutschland. Das alles war nicht die Euro 2008 in der Schweiz und Österreich. Das fing schon beim Wetter an. Gut, dafür können sie nichts. Wohl aber dafür, dass mit Österreich auch der zweite Gastgeber bereits nach der Vorrunde ausgeschieden war. Immerhin erst nach dem dritten Vorrundenspiel. Und immerhin gegen Deutschland. „Vor 30 Jahren das Wunder von Cordoba, heute das Wunder von Wien; ich wundere mich über gar nichts mehr“, grunzte Ex-Ösi-Stürmer Toni Polster am Abend des 16. Juni auf der Tribüne des Ernst-Happel-Stadions in ein Mikrofon. Dann hämmerte Michael Ballack einen Freistoß mitten in Austrias Fußballseele - und ein zweites Cordoba war Geschichte. Es mag daran gelegen haben, dass die beiden Ausrichter dieser EM so schnell zurück ins Glied mussten, dass die Einheimischen nie so recht in Stimmung kamen. Leere Public-Viewing-Plätze zum Beispiel in Klagenfurt, einer Stadt, die mit Reiner Calmund den schwergewichtigen Ex-Manager von Bayer Leverkusen zum offiziellen EM-Beauftragten ernannt hatte und im Internet mit „Calmund - die deutsche Fußballlegende“ warb.

Vielleicht ist es auch das gewesen: Sie haben einfach keine Ahnung vom Kicken. Andere aber auch nicht. „Ich lag bei meinem EM-Tipp völlig daneben“, verriet einer, der es eigentlich wissen müsste: Michael Ballack. „Ich habe ja nach dem zweiten Spieltag noch auf Italien gesetzt.“ - Italien, Frankreich, Niederlande, Rumänien! Die Todesgruppe mit Vize- und Weltmeister war so morbide, dass gleich alle vier Mannschaften vor dem Halbfinale sportlich starben. Zugegeben, die Niederländer, von ZDF-Reporter Béla Réthy zum „Europameister der Vorrunde“ gekürt, taten es in Schönheit. Und mit dem Ausscheiden von Holland und Italien gingen auch die letzten Hoffnungen auf ein zweites Sommermärchen unter: Die niederländischen Fans hatten das Potenzial dazu, 150 000 Oranjes drängten zum Viertelfinale gegen Russland nach Basel - und nach dem 1:3 in einer Endlos-Caravan- Karavane zurück nach Hause. Und zumindest in Tirol und der Südschweiz fühlten sich die Menschen seit jeher auch ein bisschen italienisch - und nach dem 2:4 im Elfmeterschießen gegen Spanien im Viertelfinale zum zweiten Mal als EM-Verlierer.

Da waren die Russen noch in Feierlaune: In einem Züricher Café brüllte einer von ihnen vor dem Halbfinale gegen Spanien in sein Handy: „Vier Tickets für Wien. Und vier Zimmer im Fünf-Sterne-Hotel ... der Preis spielt keine Rolle ... was? - Nein, nicht für Donnerstag, fürs Finale!“ Ob die Betten storniert worden sind, ist nicht überliefert. Es hat schon auch etwas Tragisches. Immer, wenn sich eine Nation anschickte, doch noch Begeisterungswellen zu entfachen, schied sie aus. Das war bei Portugal so. Das war bei den Russen nach dem 0:3 gegen Spanien so. Und das war auch bei den Türken so. Die schafften es immerhin, das Sommermärchen in Deutschland noch mal aufleben zu lassen - trotz 2:3-Niederlage im Halbfinale. SMS aus Berlin, Mittwoch, 25. Juni, 23:58 Uhr: „Es geht nichts mehr. Jedes zweite Auto fährt mit deutscher und türkischer Flagge. Alle liegen sich in den Armen und feiern zusammen. Einfach wunderbar.“ Die Handlungsreisenden in Sachen EM in Österreich und der Schweiz haben es mit Neid gelesen. Immerhin endet das Finale der Euro 2008 wie im Märchen: „Und wenn sie nicht verloren haben, dann feiern sie noch heute ...“

Mark Diening[11 Fre], e

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