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Sport: Trotzdem kein Fähnchen ans Fahrrad!

Bei der WM 2006 bekam Hans-Christian Ströbele Bauchschmerzen von den vielen schwarz-rot-goldenen Fahnen. Hier erklärt der grüne Bundestagsabgeordnete, warum ihm das auch in diesem EM-Sommer so geht

Da sind sie wieder, die Fähnchen in Schwarz-Rot-Gold.

Im Sommer 2006 hatte ich Ärger bekommen, als ich mich despektierlich über die Deutschlandfähnchen geäußert hatte, die anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft überall an Autos, aus Wohnungsfenstern, in den Händen und an den Köpfen jubelnder Menschen flatterten. Ein Kult breitete sich aus, der bei mir ungute Gefühle auslöste.

Jetzt kommen sie wieder, die Bauchschmerzen – zur Fußball-EM. Fahnen und Fähnchen in Schwarz-Rot-Gold machen sich erneut breit. Damals bin auf die Fanmeile gegangen, gleich um die Ecke vom Bundestag. Ich wollte wissen, was treibt Hunderttausende Menschen da hin? Warum machen die das? Natürlich habe ich befürchtet, dass die Stimmung auch umkippen könnte – in einen unkontrollierten nationalen Taumel. Es gab solche Phasen bei manchen alkoholisierten Gruppen, die am Bundestag vorbeizogen. Aber ich stand auch vor einem Phänomen: Ich fand überwiegend eine Stimmung, die ich nicht für möglich gehalten hatte. Zwar laut und distanzlos, aber nicht aggressiv, sondern ausgelassen und heiter. Schon weil Menschen aus der ganzen Welt mitgefeiert haben, war von Nationalismus nichts zu spüren. Die Leute schienen mehr und mehr im Rausch ihrer gemeinsamen Feststimmung.

Im Laufe der WM habe ich durchaus zur Kenntnis genommen, dass das Schwenken des Deutschlandfähnchens nicht immer Ausdruck nationaler oder gar nationalistischer Gefühle war. Es war ein Begeisterungstaumel. Trotzdem habe ich mich an die Fähnchen nicht wirklich gewöhnt, das ungute Gefühl blieb. Aber als immer mehr sich die Farben der Flagge ins Gesicht malten oder schwarz-rot-goldene Bikinis trugen, war das der Bruch mit dem Nationalsymbol. Das gefiel mir dann schon wieder. Mit Würstchen oder Kuchen in diesen Farben wurde jeder Rest von Weihevollem aufgegessen. Trotzdem, die deutsche Flagge blieb auch Symbol – und kann unheimlich wirken, wenn sie zehntausendfach geschwenkt wird. Ich weiß, in anderen Ländern ist die Nationalflagge fast in jedem Vorgarten. Da kommt bei mir auch keine Begeisterung auf. Aber Fahnen und Farben sehe ich in Deutschland noch weniger gern. Nationale Töne, nationale Begeisterung empfinde ich bei uns noch lange nicht als normal.

Bei der Parole „stolz auf Deutschland“ und deutschen Fahnen in den Händen von Millionen schwingen bei mir ungute Gefühle mit. So wie ich fühlen auch andere, nicht nur meiner Generation. Das haben mir bei der WM 2006 viele gesagt.

Damals haben mir viele Leute und Medien meine Meinung übel genommen. Die Fahne wurde mir ins Gesicht geschwenkt und ständig die Dinger hinten an mein Fahrrad drangehängt. Die Zustimmung für meine Haltung wurde verhalten geäußert, verschämt, klammheimlich, nur manchmal offen. Aber es stimmt auch: Viele Junge gehen an die Fahne weniger belastet ran. Die nationale Weihe einer Landesflagge spielt für sie keine Rolle mehr. Es bleibt eben wenig Respekteinflößendes von den deutschen Farben übrig, wenn man sie als Unterhose trägt. Und Fähnchen wurden im Supermarkt zum Schnäppchen und nachgeschmissen – groß, klein, riesig und für's Auto, mit Fußbällen und ohne. Der Kult war bald kommerzialisiert. Jetzt geht es wieder los mit Rucksäcken „in den aktuellen Fanfarben Schwarz- Rot-Gold“. Mancher wird mir wieder übel nehmen, wenn ich es prima finde, dass Schwarz, Rot, Gold durch den Fußball zu normalen Farben werden. Trotzdem, wenn ich in einem Schrebergarten die Deutschlandfahne gehisst sehe, kann ich mich aufregen: Schon wieder so einer!

Während der WM habe ich in Kreuzberg beobachtet, dass nach den Spielen nicht nur Deutsche, sondern auch Türken und andere Migranten mit riesigen Deutschlandfahnen im Autokorso unterwegs waren. Manchmal war die türkische Fahne dabei. Da waren meine Befürchtungen kurzzeitig wie weggeweht. Es kommt eben doch drauf an, wer in welcher Stimmung und in welchem Zusammenhang die Flagge schwenkt. Bei der Fußball-WM war es meist nicht der nationalistische Rausch. Das Nationale kommt bei der Nationalmannschaft leicht abhanden, wenn Podolski, Trochowski und Klose mit polnischer, David Odonkor mit ghanaischer Herkunft dabei sind. Fußball kann das Bewusstsein dafür fördern, welch wichtige Rolle Migranten in unserer Gesellschaft und in unserer Kultur spielen, welche Bereicherung sie sein können. Vielleicht steht Schwarz-Rot-Gold dann nicht nur für die eingeborenen Deutschen und ihre Geschichte, sondern für die gesamte Bevölkerung in Deutschland.

Ob die EM wieder so eine Stimmung bringt? Ich weiß es nicht. Die grenzenlose Begeisterung bei der WM war wohl nicht nur eine erstmalige, sondern auch einmalige Kulturerscheinung. Das hatte damit zu tun, dass die deutsche Nationalmannschaft so glorios durch das Turnier stürmte, dass die Welt hier zu Gast war und dass die Sonne schien. Offen ist doch, ob die Hochstimmung bleibt, wenn die deutsche Mannschaft mal in der Vorrunde ausscheidet. Dann können sich alle eine Mannschaft suchen, die sie wegen ihres schönen und erfolgreichen Spiels bejubeln. So mache ich es ohnehin, so haben es Berliner Türken 2006 gemacht, als ihre Mannschaft nicht dabei war. Wie die Stimmung bei einem EM-Finale Deutschland gegen Türkei wäre, weiß ich nicht. So weit ist es ja nicht. Nationalismus wäre dann katastrophal. Aber daran glaube ich nicht.

Ein spannendes, schönes Fußballspiel kann auch mich vom Sitz reißen – es muss nicht die deutsche Mannschaft sein. Ein Schlachtruf „Deutschland, Deutschland“ kommt mir nicht über die Lippen. Trotz und wegen alledem wird man mich auch jetzt während der EM nicht mit Deutschlandfähnchen am Fahrrad erwischen.

Aufgezeichnet von Lars Spannagel.

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