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Sport: …und dann kam Ewerthon

Es konnte nur einen geben. Borussia Dortmund machte es spannend und entschied erst eine Viertelstunde vor Schluss durch ein Tor von Ewerthon den Dreikampf um die Deutsche Meisterschaft.

Es konnte nur einen geben. Borussia Dortmund machte es spannend und entschied erst eine Viertelstunde vor Schluss durch ein Tor von Ewerthon den Dreikampf um die Deutsche Meisterschaft. Daniel Pontzen (München), Felix Meininghaus (Dortmund) und Stefan Hermanns (Leverkusen) kommentieren die Entscheidung.

Leverkusen, 14.59 Uhr. Bayer Leverkusen hat ein komisches Publikum. Die Mannschaft kann heute zum ersten Mal Deutscher Meister werden, aber als die Spieler eine halbe Stunde vor Spielbeginn zum Warmmachen aufs Feld kommen, sind die Plätze in der Bayarena zu gerade mal 20 Prozent gefüllt. Nur der Block mit den Hertha-Fans ist schon voll, und die singen zur Begrüßung: „Ihr werdet nie Deutscher Meister.“ Bayers Pressesprecher Dost hingegen schreibt in der Stadionzeitschrift: „Mir scheint, als würde uns die Glücksgöttin mit dem Auge zuzwinkern.“

Dortmund, 15.03 Uhr. Das mit der Glücksgöttin sehen die Fans hier ganz anders. An den Würstchenbuden singen sie: „Wir holen den Uefa-Cup und wir werden Deutscher Meister.“

München, 15.11 Uhr. Im Olympiastadion herrscht Gelassenheit: Die Glücksgöttin ist ohnehin urbayerisch; da herrscht hier Gewissheit. Auf der Videowand werden die Tore des letztjährigen Saisonfinales gezeigt, nur zur Erinnerung. Die Bayernfans singen: wissen: Deutscher Meister wird nur der FCB.

Leverkusen, 15. 15 Uhr. Die Leverkusener Farbengeschäfte müssen in dieser Woche ein gutes Geschäft gemacht haben. So viele selbst gemalte Botschaften hat es vermutlich in der Bayarena noch nie gegeben. „Über Haching“ steht in einer Ecke, auf der Gegentribüne: „Danke für die geile Saison“,und in der Fankurve: „An die Götter dieser Welt: Wo bleibt die Gerechtigkeit?“ sowie: „Gewinnt für Jens Nowotny“. Aber was bringt das, wenn Dortmund auch gewinnt?

Dortmund, 15. 21 Uhr: Hier ist gerade Jürgen Kohler verabschiedet worden, mit einem Blumenstrauß und einer Rede von Präsident Gerd Niebaum. Die Südkurve hat ihn gefeiert, und das ganze Stadion hat einen Jürgen Kohler kennen gelernt, wie ihn noch niemand kannte. Der Mann hat geweint, und alle haben es gesehen.

Leverkusen, 15.40 Uhr. Tor in Leverkusen. Michael Ballack zirkelt einen Freistoß aus fast 25 Metern direkt neben den linken Torpfosten. Gabor Kiraly hat keine Chance. 1:0 für Bayer, auf der Anzeigetafel erscheinen die Zwischenstände aus Dortmund und München. Im Moment ist Bayer Leverkusen Deutscher Meister.

Dortmund, 15.42. Von diesem Tor hat hier niemand etwas mitbekommen. Auf der Anzeigetafel werden keine Zwischenstände angezeigt. Die Borussia will ohne fremde Hilfe Meister werden und spielt drückend überlegen. Gerade hat Marcio Amoroso einen Freistoß an die Latte gesetzt.

München, 15.43 Uhr. Die Kunde vom Leverkusener Tor löst keine Hektik aus. Die Bayern stehen offenbar in Kontakt mit den Hertha-Fans, jedenfalls richten sie lautstark ins Rheinland aus: „Ihr werdet nie Deutscher Meister.“ Es klingt nicht nach Trotz, sondern nach Gewissheit. Dann steigt die Aufregung doch. Schiedsrichter Jürgen Jansen entscheidet auf Abstoß, als sich Santa Cruz einen Strafstoß erschwindeln will. So leicht lässt sich das Glück nicht erzwingen.

Dortmund, 15.48 Uhr. Jetzt steht doch ein Zwischenergebnis an der Anzeigetafel, und es ist keines, das die Dortmunder Zuschauer erfreut. Werder Bremen ist 1:0 in Führung gegangen, weil die Borussia in ihrem Sturmlauf die Absicherung nach hinten vergessen hat. Paul Stalteri heißt Bremens Torschütze, den sie hier in Dortmund verfluchen und in Leverkusen bestimmt feiern werden, oder?

Leverkusen, 15.49 Uhr. Wer das Tor geschossen hat, interessiert niemanden. Wohl aber, dass eins gefallen ist. Jetzt steht es auf der Anzeigetafel: Dortmund – Bremen 0:1. Die Glücksgöttin zwinkert mit beiden Augen. Nur Herthas Fans singen immer noch das alte Lied: „Ihr werdet nie Deutscher Meister.“ Doch dazu müsste Hertha schon ein Tor schießen. Gegen elf Bayer-Spieler und 20 000 Fans in Meisterstimmung.

München, 15.51 Uhr. Die Menschen tuscheln auf der Tribüne, schauen sich aufgeregt an. Bei den Fans in der Südkurve steigt die Lautstärke in Erwartung froher Kunde von der Videowand, die ihnen nicht versagt wird. 1:0 für Bremen. Zum ersten Mal wird gejubelt im Olympiastadion.

Dortmund. 15.56 Uhr. Hier jubelt niemand, aber es herrscht auch noch keine Trauer, Verzweiflung oder ähnliche Stimmung. Die Fans sind immer noch in freudiger Erwartung, auch wenn sich das Zwischenergebnis von Leverkusen längst herumgesprochen hat. Auch die elf Dortmunder da unten auf dem Rasen stürmen unbeeindruckt weiter. Allein Amoroso hätte schon zwei Tore schießen können. Torhüter Rost ist Bremens bester Mann. Trotzdem: Ein Tor liegt in der Luft, das spüren hier alle.

Leverkusen 16.04. Uhr, Ulf Kirsten überall: grätscht vorne rechts gegen Michael Hartmann, hinten links gegen Alex Alves, verteilt die Bälle im Mittelfeld und soll vorne die Tore schießen. Seit zwölf Jahren spielt er bei Bayer, und noch nie war er Deutscher Meister. Gegen Hertha trägt er für den verletzten Jens Nowotny die Kapitänsbinde. Wenn es heute klappt, bekommt Kirsten von Uwe Seeler die Meisterschale überreicht.

München, 16.08 Uhr. Das Erwartete trifft ein. Scholl schlägt die fünfte Bayern-Ecke, Rostocks Baumgart fälscht unglücklich ab. 1:0 für den Meister, den Noch-Meister.

Leverkusen, 16.10 Uhr. Auf der Anzeigetafel wird das Tor der Bayern ganz einfach ignoriert. 6:1 steht dort. Das ist das Eckballverhältnis. Bayer wirkt wild entschlossen. Die Zuschauer sind es auch. Die Kopfhörerträger verkünden ein Tor aus Dortmund. „2:0“ ruft jemand. Der Jubel schwillt an – und legt sich erst langsam wieder. Ein Hauch von Parkstadion 2001 in der Bayarena.

Dortmund, 16.12 Uhr. Dabei ist hier wirklich ein Tor gefallen. Aber nicht für Bremen, sondern für Dortmund, das längst überfällige 1:1. Jan Koller hat es erzielt, ausgerechnet der lange Tscheche, den die Zuschauer hier in der Hinrunde noch ausgelacht haben.

Leverkusen, 16.21 Uhr. In der Halbzeitpause bekommt Rudi Völler auf dem Rasen einen Scheck über 9650 Euro für die Mexiko-Hilfe – von Guido Buchwald. Der weiß, wie man in der Bayarena Deutscher Meister wird. Vor genau zehn Jahren köpfte er hier den VfB Stuttgart kurz vor Schluss zum Titel. Ein gutes Omen für Bayer?

Dortmund, 16.24 Uhr. Meisterschaft – na und? Gesprächsthema Nummer eins in der Pause ist hier ein Tor, das nirgendwo sonst interessiert. Dortmunds Fans bejubeln die Wolfsburger Führung gegen Schalke.

Leverkusen, 16.31 Uhr: Hans-Jörg Butt, der Mann mit der Nummer eins, kommt als Erster aufs Feld. Aus den Lautsprechern tönt ein Lied mit dem Text: „Steh auf – auch wenn du unten bist.“ Noch steht Bayer oben. Aber Kirsten ist ausgewechselt worden.

München, 16.32 Uhr. Franz Beckenbauer hat wieder Platz genommen. Seine Laune ist mäßig. Er hasst Abhängigkeiten.

Dortmund, 16.42 Uhr. Im Westen nichts Neues. Dortmund stürmt, Werder verteidigt, immer noch mit Erfolg, aber der Druck wird langsam unerträglich. Gerade eben hat Otto Addo den Pfosten getroffen.

Leverkusen, 16.47 Uhr. Bayer erhöht auf 7:1. Ecken. Neuville tritt von links, spielt den Ball auf den kurzen Pfosten, Herthas Simunic verlängert großzügigerweise mit dem Kopf. Auf Ballack. Der schießt: Der Ball ist drin. Ballack Leverkusen führt 2:0. Hertha kann Bayer nicht mehr aufhalten. Jetzt muss sich Dortmund selbst helfen.

München, 16.52 Uhr. Die Neuigkeiten sind inzwischen im Süden angelangt. Im Olympiastadion herrscht Stimmung wie auf einer Hochzeit, auf der die Braut in letzter Sekunde Reißaus genommen hat. Dann ein kurzes Zwischenhoch. Santa Cruz läuft allein aufs Tor, spitzelt den Ball an den Pfosten. Scholl staubt ab. 2:0. Das festigt Platz zwei. Beckenbauer hasst zweite Plätze.

Leverkusen, 16.57 Uhr. Falko Götz wechselt Andreas Neuendorf ein. Der ist erst vor dieser Saison nach Berlin gekommen – aus Leverkusen. Wäre er geblieben, könnte er vermutlich bleiben. Zur Meisterschaftsfeier. Herthas Fans haben jedenfalls schon lange nicht mehr gerufen: „Ihr werdet nie Deutscher Meister.“

Dortmund, 17.00 Uhr. Nein, werdet ihr auch nie, jedenfalls nicht in dieser Saison. Tor in Dortmund: Ewerthon, gerade eingewechselt, hat das 2:1 für die Borussia geschossen. Ein Glückstor mit Hilfe des Pfostens, aber das interessiert hier niemanden. Dabei wäre hier beinahe alles vorbei gewesen, als Tjikuzu bei einem der wenigen Bremer Konter die Latte traf.

Leverkusen, 17.01 Uhr. Ganz Deutschland gönnt Leverkusen den Titel. Ganz Deutschland? Herthas Fans singen auf einmal wieder. „Ihr werdet nie Deutscher Meister.“ Wenigstens für Rudi Völler, den früheren Sportdirektor von Bayer, gibt es noch einen schönen Moment. Sebastian Deisler wird eingewechselt, damit er seinen WM-Tauglichkeits-Nachweis erbringen kann. Herthas Fans pfeifen.

Dortmund, 17.04 Uhr. Ein Bremer Tor wird hier nicht mehr fallen. Das hat zwei Gründe. Zum einen sind die Bremer nach einem Platzverweis gegen Krstajic nur noch zu zehnt, zum zweiten hat Sammer gerade Jürgen Kohler eingewechselt. Der darf in seinem letzten Spiel für die Borussia hinten dichtmachen und die Meisterschaft nach Hause bringen.

Leverkusen, 17.12 Uhr. Tor für Hertha. Die Vorarbeit kommt von Andreas Neuendorf, früher Leverkusen, es trifft Stefan Beinlich, früher Leverkusen. Vermutlich hat das nur noch statistischen Wert? Oder trifft für Bremen noch Torsten Frings, bald Dortmund?

Dortmund, 17.16 Uhr. Frings wird den Teufel tun, es sich mit seinen künftigen Kollegen zu verderben. Der Schiedsrichter pfeift ab. Dortmund ist Meister.

München, 17.17 Uhr. Hier fallen noch Tore. Hansen und Lantz treffen für Rostock, Elber ein letztes Mal für den FC Bayern. 3:2. Schlusspfiff. Es ist leise geworden im Olympiastadion.

Leverkusen, 17.18 Uhr: Yildiray Bastürk geht vom Platz. Bayers Trainer Klaus Toppmöller drückt ihn an seine Schulter. Es ist, als ob ein Vater seinen Sohn tröstet. Zehn Sekunden später ist das Spiel zu Ende. Bayers Spieler trotten zum Mittelkreis. Reiner Calmund kommt aus dem Spielertunnel. Drafi Deutscher singt dazu: Marmor, Stein und Eisen bricht. Jubelstimmungsmusik hört sich anders an.

Dortmund, 17.19 Uhr. Dortmunder Spieler, Funktionäre und Fans feiern auf dem Rasen. Wo ist Matthias Sammer, Dortmunds Trainer, der noch bei jedem Sieg Grund zur Kritik gefunden hat? Er sitzt in den Katakomben und genießt den Erfolg für sich allein. Pech für die Fotografen. Bilder von einem wild tanzenden Derwisch Sammer wird es nicht geben.

Leverkusen, 17.22 Uhr: Auf der Videowand erscheint das Konterfei von Stadionsprecher Günther Maczokowiak: „Liebe Zuschauer, ich habe jetzt die Endergebnisse…"

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