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Sport: Weltreise in 90 Minuten

Ein Fußballfan ist während der WM um den Globus gereist und hat nun ein Buch darüber geschrieben

David Winners Weltreise war gerade zehn Tage alt, als er diesen Professor in Seoul besuchte. Der Mann sagte ihm: „Fußball ist die Industrie der Zukunft. Software. Es wird nichts Materielles produziert, nur Bilder für das Fernsehen, um die Menschen glücklich zu machen oder traurig. Das ist die Zukunft. Die Zukunft der Welt und des Fußballs.“

David Winner mag den Professor, aber er kann wenig anfangen mit dessen These. Natürlich ist Fußball nicht mehr das Spiel der Arbeiterklasse, das Sonntagsvergnügen der kleinen Leute, die bei Wind und Wetter auf Steintraversen ihre Mannschaft anfeuern und später mit den Spielern einen heben gehen. Das Fernsehen hat den Fußball verändert, hat ihn von der Basis entfernt, zugleich aber auch universeller gemacht und einer breiteren Schicht geöffnet. David Winner hat zwei wunderschöne Bücher über das kulturelle Phänomen dieses weltumspannenden Sports geschrieben, „Brilliant Orange“ und „Those Feet“. Er kommt aus London und wohnt in Rom, sein Lieblingsteam Arsenal verfolgt er seit Jahren nur noch via Satellit. Aber ist das Spiel, sein Spiel, wirklich nur noch eine bessere Computersimulation, das Leidenschaft auf Knopfdruck erzeugt?

Dieser Frage ist Winner auf einer langen Reise nachgegangen. Er hat erst gar nicht erst versucht, Tickets für die Weltmeisterschaft in Deutschland zu bekommen. Vor dem Fernseher in Rom oder London mochte er aber auch nicht sitzen. „Die Fußball-Weltmeisterschaft ist das größte Kulturereignis der Welt. Wo könnte man dieses Ereignis besser verfolgen als in … der Welt!“ Also ist Winner vier Wochen durch die Welt gereist, von Berlin über Norwegen, Polen, Schweden, Italien und England, über Südkorea, Japan, Kanada, die USA, Argentinien, Brasilien und Portugal zurück nach London. Das Ergebnis liegt nun als Buch vor. „Around the World in 90 Minutes“ ist mehr als eine Reisereportage, es ist eine kleine Kulturgeschichte über Unterschiede und Gemeinsamkeiten und die verbindende Kraft eines Spiels. Über das, was Winners Kollege Jimmy Burns „die instinktive Universalität des Fußballs“ nennt. Burns hat „Die Hand Gottes“ geschrieben, die berühmte – und nicht autorisierte – Biografie des Diego Maradonas. Am Freitagabend diskutiert er mit David Winner und knapp 200 Fußballfans im „Offside“, einem Pub im Londoner Stadtteil Islington, wo Tony Blair früher gewohnt hat. „Glauben Sie, ich hätte ein Buch über Maradona schreiben können, wenn ich ihn nur im Fernsehen gesehen hätte?“ Burns erzählt von Villa Fiorito, dem Slum von Buenos Aires. Es gab keine Kanalisation, nur ein großes, tiefes Loch, in das der kleine Diego einmal beim Spielen hineinstürzte. Ein Onkel kam zufällig vorbei und zog den Jungen aus der Kloake. Maradona schüttelte sich kurz und ging zurück zu seinem Ball. „Das ist Diegos Leben: Er fällt immer wieder in die Scheiße und kommt immer wieder heraus. Aber solche Geschichten siehst du nicht im Fernsehen.“

David Winner hat gar nicht erst versucht, auf Maradonas Spuren zu wandeln. Und doch hat ihn Buenos Aires auf seiner Weltreise am meisten beeindruckt, „die unglaubliche Intensität, mit der die Argentinier ihre Mannschaft verfolgt haben, der Schmerz, den sie nach der Niederlage gegen Deutschland empfunden haben“. An diesem 30. Juni hat der Weltreisende aus England einiges über das Verhältnis der Argentinier zum großen Nachbarn Brasilien gelernt. Da war dieser Anruf in seinem Hotel, ein Brasilianer wollte elf Zimmer für den kommenden Tag buchen. Bedauere, sagte der Hotelier, er sei nahezu ausgebucht. „Sie verstehen mich nicht“, erwiderte der Anrufer, „ich brauche elf Zimmer für die argentinischen Fußballspieler, die von der WM nach Hause kommen, ha, ha ha!“, und dann war die Verbindung auch schon unterbrochen. Am nächsten Tag scheiterte Brasilien an Frankreich und ganz Buenos Aires sang in Gedanken die Marseillaise.

Es war Winners erster Aufenthalt in Südamerika, und weil er wider Erwarten so grandios ausfiel, bedauert er es ein wenig, dass in vier Wochen so wenig Gelegenheit war für die Suche nach dem Unbekannten. In Afrika zum Beispiel. Die Elfenbeinküste erschien ihm nach einer Anfrage im Außenministerium zu gefährlich, Ghana war zu teuer, und Angola hätte zu viel Zeit gekostet. Auch die Ukraine ließ sich nicht in seine Route einfügen, „dafür war ich in Polen. Danzig war eine tolle Erfahrung, nie hätte ich in Osteuropa so viel Leidenschaft erwartet – nicht für die eigene Mannschaft, sondern für das Spiel. Die Leute waren verrückt nach Fußball.“ In London hat er gesehen, wie Engländer sich über Deutschlands Sieg gegen Polen freuten, „das müssen Sie sich mal vorstellen, wir Engländer freuen uns mit den Deutschen, das ist eine dramatische Verschiebung unserer kulturellen Werte“. Und Italien, immerhin David Winners Wahlheimat? Kommt nicht besonders gut weg. Wie konnten sie nur Fabio Grosso feiern für seinen Betrug gegen Australien, diesen herausgeschundenen Elfmeter in der letzten Minute? Die Italiener sind zwar Weltmeister geworden, aber zur Strafe für all die Verstöße gegen die ungeschriebenen Gesetze der Anständigkeit sind sie ein paar Monate später nicht mit der Ausrichtung der Europameisterschaft 2012 betraut worden.

Der Abend im „Offside“ geht zu Ende, und die Fans diskutieren über diese neue Herausforderung, ein großes Turnier in Osteuropa. Die Dinge geraten in Bewegung. Polen und die Ukraine, wer hatte damit gerechnet? Wären alle relevanten Daten der EM-Bewerber in einen Computer eingegeben worden, hätte dieser wohl Italien als Sieger ausgespuckt. Doch so funktioniert Fußball nicht. Was wohl der Professor in Seoul dazu sagen wird?

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