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Am 27. Mai 1968 hatte mit dem Contergan-Prozess der Versuch begonnen, die Hintergründe juristisch aufzuzeigen und zu klären, die von 1957 bis 1961 zur größten Arzneimittelkatastrophe in der modernen Medizin führten.Gut zwei Jahre später, am 18. Dezember 1970, wurde das Verfahren eingestellt. Im Gegenzug verpflichtete sich die Firma Grünenthal zur Zahlung von 100 Millionen D-Mark plus Zinsen für die missgebildeten Kinder.

© Frank Leonhardt/dpa

1968 im Tagesspiegel: Im Contergan-Prozeß prallen die Meinungen der Gutachter immer härter aufeinander

Vor gut 50 Jahren begann der Contergan-Prozess, der mehr als zwei Jahren später eingestellt wurde.

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben.

Am 27. Juni berichtete der Korrespondent des Tagesspiegels über den seit 27. Mai 1968 laufenden Contergan-Prozess. Dieser versuchte die Hintergründe juristisch aufzuzeigen und zu klären, die von 1957 bis 1961 zur größten Arzneimittelkatastrophe in der modernen Medizin führten. Gut zwei Jahre später, am 18. Dezember 1970, wurde das Verfahren eingestellt. Im Gegenzug verpflichtete sich Grünenthal zur Zahlung von 100 Millionen D-Mark plus Zinsen für die missgebildeten Kinder.

Die Visiere sind heruntergeklappt, die Fehdehandschuhe geworfen: Im Alsdorfer "Contergan-Prozeß" hat die Schlacht der Sachverständigen begonnen. Eine erbarmungslose Schlacht, was sich an der Tonart sofort ablesen läßt. Die Professoren, die über den Zusammenhang zwischen Contergan und Nervenschäden urteilen sollen, nennen sich zwar noch "Kollegen", aber diese Anrede ist zur Formsache, ja zur blanken Ironie geworden.

Längst geht es nicht mehr allein um Contergan, sondern um den Wert ganzer wissenschaftlicher Disziplinen und um den Ruf dieser Koryphäen. Nichts bleibt da noch an Gemeinsamkeit, wenn man sich durch die Blume, aber für jeden verständlich, der Scharlatanerie bezichtigt. Mangelhafte Untersuchungsmethoden, Schlamperei bei den wissenschaftlichen Analysen, irrige Schlüsse - das sind die Vorwürfe, die seit gestern durch den Gerichtssaal schwirren. Das Gericht ist angesichts dieses Kampfes in die Rolle des Zuschauers gedrängt, der nicht einmal die Regeln des Kampfes genau kennt.

Nach allen Regeln der Anwaltskunst nehmen die 18 Verteidiger der sieben angeklagten leitenden Mitarbeiter des Contergan-Herstellers "Chemie Grünenthal" den "Krongutachter" der Anklage, den Kölner Neurologie-Professor Werner Scheid, in die Zange. Ob der Herr Sachverständige denn auch genau die Erkrankungen ermittelt habe, die die Patienten vor Eintreten der Nervenschäden hatten? Ob er genau die Medikamente erfaßt habe, die sie außer Contergan genommen haben? Warum er den Patienten denn so einfach ihre Angaben abgenommen und nicht Unterlagen von den Krankenkassen beigezogen habe?

Scheids Antwort klingt so, als habe man Karajan die Frage gestellt, ob er denn falsche Töne aus seinem Orchester hören könne. "Als Arzt, der sein Metier versteht, hat man ein sicheres Gefühl dafür, was man dem Patienten abnehmen kann. Außerdem sind Contergan-Schäden sicher festzustellen, wenn ein ganz bestimmtes Krankheitsbild und ein typischer Krankheitsverlauf vorliegen. Dann kann man sogar auf den Beweis dafür verzichten, daß der Patient überhaupt Contergan eingenommen hat. Allein das Erscheinungsbild ist maßgebend für die Diagnose."

Aus der Schweiz kommt Widerspruch.

Die Verteidigung hat den Baseler Neurologen Professor Heinrich Kaeser herbeizitiert. "Das möchte ich energisch bestreiten", sagt er. "Ohne lückenlose Aufnahme der Vorgeschichte des Kranken, ohne Untersuchung des Grundes der Schlafstörung, gegen die der Patient Contergan genommen hat, und ohne eine psychiatrische Untersuchung ist keine Diagnose möglich." Kaeser zählt auf, welche Untersuchungen unumgänglich seien.

Wenn Anklage-Gutachter Scheid sich auf das typische Erscheinungsbild, nämlich Gefühlsstörungen, stütze, könne er dazu aus seiner Praxis nur sagen: "Bei 30 Prozent der Patienten mit Nervenschäden, die zuckerkrank waren, seien Kribbeln und Taubheit in den Gliedern aufgetreten. Also könne man mit dem Erscheinungsbild überhaupt nichts anfangen. Ohne genaue, klinisch kontrollierte Untersuchungen ist ein neurologisches Gutachten nicht möglich."

Kaeser berichtete von 300 Patienten, denen in Baseler Krankenhäusern vor Bekanntwerden des Verdachts Contergan gegeben wurde: "In keinem Falle traten Nervenstörungen auf."

Aber wieso, fragt ein anderer Gutachter, habe Kaeser dann 1965 noch in einer Veröffentlichung ebenso wie Professor Scheid Contergan-Nervenschäden angenommen? Wieso sein heutiger Widerruf? Es tun sich seltsame Dinge in Alsdorf.

"Eingebildete Modekrankheit"

Während Kaeser die Contergan-Schäden als "Modekrankheit" bezeichnet, wird der Berner Privatdozent Werner Bärtschi-Rochaix noch deutlicher: Man könne nicht ausschließen, daß die Patienten sich die Schäden nur eingebildet haben, läßt er durchblicken.

Von den 135 Fällen, auf die sich die Gutachten von Professor Scheid und seiner Assistentin Dr. Gibbels stützen, seien 62 "dubios". Nur in elf Fällen seien wirklich seriöse Untersuchungen angestellt worden. Man belehre doch gemeinhin schon Studenten, daß unter anderem auch röntgenologische und radioneurologische Untersuchungen erforderlich seien. "Das alles vermisse ich hier. Ich höre die Botschaft, doch mir fehlt der Glaube. Das neue Krankheitsbild der Contergan-Nervenschäden, das Professor Scheid und Dr. Gibbels beschreiben, ist eine sehr interessante Mutmaßung, aber nicht mehr".

Längst sind die Gutachter davon abgekommen, sich in ihren Wertungen zu zieren. "Natürlich möchte ich dem Kollegen nicht widersprechen, aber..." hieß es in der vorigen Woche noch. Jetzt dröhnt es aus den Mikrophonen: "Ich weiß nicht, ob der Kollege hier die Pflugschar tief genug angesetzt hat".

Die Verteidigung: "Professor Scheid hat nicht ausgeschlossen, daß es einmal ein Medikament geben wird, daß ein Krankheitsbild auslöst, das dem jetzt angeblich durch Contergan ausgelösten gleicht. Wieso sind Sie sicher, daß es unter den heutigen Arzneien kein solches Mittel gibt?"

Scheid: "Weil die Schäden nur in der Zeit auftraten, in der Contergan im Handel war."

Es ist nicht leicht, in Alsdorf Gutachter zu sein. Man muß wohl die Haut eines Elefanten haben, um hier nicht aus seinem Nervenkostüm zu fahren. Professor Scheid hat diese notwendige Gelassenheit. Nach vier Stunden spitzer Fragen lehnt er eine Pause ab.

Bleibt die resignierende Feststellung von Verteidiger Dörr: "Ich glaube, wir brauchen bald einen Obergutachter, der uns einmal sagt, wer denn nun wirklich für welche Fragen kompetent ist."

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Horst Zimmermann

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