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70 Jahre Tagesspiegel - unsere Zeitung: Achtung, wir haben noch was vor!

Macht doch, was ihr wollt – das war die Ansage für den Jugendblog. Das haben die Autorinnen und Autoren denn auch gemacht. Vor allem sehr erfolgreich.

„Sexistischer Dünnpfiff“ – oh nee! Der meistgeklickte Text auf dem Jugendblog wird für immer mit Sexismus in Verbindung gebracht werden! Ich habe ihn zwar nicht geschrieben, aber hochgeladen. Ich trage die Verantwortung. Ich möchte abhauen.

Es ist November 2014, ich leite seit einem halben Jahr den Jugendblog des Tagesspiegels. Ich bin 19 Jahre alt und habe ständig das Gefühl, in einer Achterbahn zu sitzen. In diesem Fall geht es bergab: Unser Autor Max Deibert hat ein millionenfach geklicktes Video von einer jungen Frau kommentiert, die zehn Stunden lang durch New York läuft und von Männern angemacht wird. Die Werbeaktion für die feministische Internetseite Holloback wurde gefilmt vom Freund der Schauspielerin. Es wurde dazu aufgefordert, Fotos von Männern hochzuladen, die Frauen belästigt haben sollen, eine Art Online-Pranger.

"Im Internet als Perverser abgestempelt werden?"

In seinem Text, den fast 200 Leute kommentieren, kritisiert Max die Aufforderung zur Selbstjustiz: „Wer wird in Zukunft noch junge Frauen auf der Straße grüßen? Wer wagt sich überhaupt in die Nähe von jungen Frauen, wenn er Gefahr läuft, im Internet als Perverser abgestempelt zu werden?“ Er erkläre Frauen zu Freiwild, heißt es in den Kommentaren. Mir bricht der Schweiß aus.

Zwei Tage davor bin ich noch mit einem breiten Grinsen aus der Redaktion gekommen. Die Bildungssenatorin hatte ihre Pläne für ein neues Jugendportal vorgestellt, darüber sollte ich im Lokalteil schreiben. Die Pressekonferenz fand gegen Mittag statt, um 17 Uhr musste ich fertig sein. Plötzlich ging gar nichts mehr, kein Wort wollte an die richtige Stelle, ich konnte über meine eigenen Pointen nicht mehr lachen. Um zehn vor fünf kam der Anruf von den Kollegen: „Wo ist dein Text?“ Ich kopierte ihn auf die Seite und verzog mich aufs Klo. Fünf Minuten später rief der Lokalchef an: „Simon mein Lieber, starker Text, weiter so.“ „Danke“, stammelte ich und legte auf.

Mit dem Jugendblog hatte es so angefangen: Ich machte nach meinem Abitur gerade ein Praktikum beim Tagesspiegel, als die Jugendseite „Unter 18“ eingestellt wurde. Wenige Tage später saßen zehn der jugendlichen Autoren in einem Konferenzraum, die Stimmung pendelte zwischen Ärger und Trotz. Jetzt erst recht, dachten wir und eröffneten einen Internet-Blog. Wir nannten ihn „Der Schreiberling“, wegen schreiben und Berlin.

Wir schrieben über unsere Stadt, die Bundesliga, Musik, Filme, Bücher – alles, was uns jungen Menschen so im Kopf herumschwirrt. Wir wollten unsere Geschichten erzählen. Schnell gab es viel mehr Themenideen als Autoren. Zum Infotreffen kamen 20 begeisterte junge Menschen, die Journalisten werden wollten. Zu unseren wöchentlichen Konferenzen brachten sie immer mehr Leute mit, auch junge Fotografen. Im Juli standen etwa 50 E-Mailadressen im Verteiler, Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren. Sechs verließen Berlin und berichteten von ihren Auslandsjahren: Welche Musik hören Jugendliche in Togo, England, Schottland, Bulgarien, Neuseeland, Lettland? Wie ist das Schulsystem dort?

Zur Europawahl interviewten wir Jugendliche aus fast allen EU-Mitgliedsstaaten und konfrontierten Spitzenkandidaten der Parteien mit unseren Träumen und Zukunftsängsten. Die Texte erschienen auf Tagesspiegel Online, der Blog zog um. Wir bekamen eine eigene Rubrik auf Tagesspiegel.de. Unsere Arbeit gefiel dem Online-Chef so gut, dass er sagte: „Wir machen die Seite genau so, wie ihr sie haben wollt. Ich halte mich raus.“ Dieses Konzept gilt bis heute, wir haben vollständige Freiheit auf dem Jugendblog.

Am 12. September 2014 starteten wir unseren Auftritt auf Tagesspiegel.de mit einer Serie zu den U20-Poetry-Slam-Meisterschaften und bekamen dazu eine Printseite im Lokalteil. Das Online-Magazin meedia.de veröffentlichte ein Bild von mir und schrieb: „Soll den Tagesspiegel-Lesern die junge Generation näher bringen: Simon Grothe (19).“

20 Augenpaare, die auf dich starren

Ständig wollten jetzt neue Leute mitmachen. Johann aus Charlottenburg, der fotografierte oder Hanna, die Musiker interviewte. Aus mir, dem Praktikanten, war ein Journalist geworden, mit Schreibtisch und Telefonnummer in der Redaktion. Wenn ich auf dem Schlauch stand, gab es zwei Redakteurinnen, die halfen. Ich interviewte Megan Fox und MCFitti, schrieb für den Lokalteil, rezensierte die Jugendfilme der Berlinale. Ich plante Konferenzen, redigierte Texte, publizierte.

Die Autoren waren genau wie ich Amateure, manche sogar älter als ich. Sie gingen zur Schule oder studierten. Bei dem Wort „Redaktionskonferenz“ erwartet man vielleicht, dass alle mit einem fertigen Artikel kommen, den sie am nächsten Tag mit Superfoto und Idee für die Überschrift schicken. Doch es ist eher so, dass 20 Augenpaare auf dich starren und darauf warten, ein Thema mit vereinbartem Interviewtermin vorgelegt bekommen, am besten schon mit der Idee für einen Textanfang.

Mal lief es gut, dann zweifelte ich wieder. Sich über andere aufzuregen, ist leicht, es macht ja auch Spaß und verbindet. Wir haben große Ideen, jeden Tag. Aber ich konnte jetzt nicht mehr mitmeckern, dass „die da“ sie nicht umsetzten. Ich war selbst „die da“ geworden, denen vorgeworfen wird, einen Text zu verunstalten, wenn sie einen Satz redigieren.

Die Artikel, die wir veröffentlichten, gefielen mir immer gut, aber voll zufrieden war ich nie. Es würde noch so viel mehr gehen, ich wollte den Blog neu gestalten, mehr Autoren, Fotografen, Aktionen, ein gedrucktes Magazin. Bestimmt waren meine Ansprüche zu hoch, wir hätten ein ganzes Redaktionsteam gebraucht. Auch mit dem, was wir umsetzen konnten, wurde ich eingeladen, im Bundesrat eine Laudatio im Bundesschülerzeitungswettbewerb halten. Ich hielt einen Vortrag auf der Konferenz „Junge Zielgruppe“ des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger, das Medium Magazin bildete mich als einen der 30 besten deutschen Journalisten unter 30 auf dem Cover ab – ein seltsames Gefühl.

Journalismus lässt Jugendliche zu wenig zu Wort kommen

Aber wenn es der Sache hilft! Es gibt viel zu wenig guten Journalismus, der Jugendliche zu Wort kommen lässt und von ihnen gelesen wird. Jugendliche lesen keine Zeitung, und das Problem bei Jugendmagazinen ist, dass sie versuchen, die junge Generation auf den größten gemeinsamen Nenner zu bringen, um die Zielgruppe möglichst schnell zu „monetarisieren“. Guerillamäßig werden virale Videos gepostet, Geschichten von YouTubern erzählt und Bilder von Nicki Minajs Po gezeigt.

Gleichzeitig können Erwachsene Jugendliche kaum einschätzen. Meine eigene Oma fragte mich neulich, ob ich nur Markenkleidung kaufe und erzählte von einer Dokumentation über die „Generation Luxus“. Mein Nachbar belehrt mich, ich solle wählen gehen, weil sonst extremistische Randgruppenparteien meine Stimme bekommen, und als ich an Weihnachten nicht in die Kirche wollte, schimpfte mein Großvater über die desinteressierte Jugend.

Wir haben also noch einiges vor. Aber ich bin 20, ich werde noch viele Jahre arbeiten. Im August bin ich nach Flensburg gezogen zum ökologischen Bundesfreiwilligendienst. Unkraut jäten, Schweine füttern und Kindern erklären, was an Solarenergie toll ist. Der Blog geht natürlich weiter. Mit neuer Leitung, mit vielen neuen Autoren und Autorinnen.

Den Tagesspiegel-Jugendblog Schreiberling finden Sie hier. Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.

Simon Grothe

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