zum Hauptinhalt
Die Bauwirtschaft hofft in der Flüchtlingskrise auf neue Geschäfte.

© dpa

Bauindustrie und Wohnungswirtschaft: Hammerhartes Bündnis in der Flüchtlingskrise

Sonderabschreibungen im Wohnungsbau, Abbau von Normen – die Bauindustrie hofft auf gute Geschäfte, da Deutschland in der Flüchtlingskrise schnell neuen Wohnraum braucht.

Der Druck ist gewaltig. Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD) ist nicht zu beneiden. An den Lobbyismus einzelner Branchen ist sie gewohnt. Aber seit die Flüchtlingskrise die ohnehin schon große Wohnungsnot in Ballungsräumen noch verschärft, sitzt ihr außerdem ein mächtiges Bündnis im Nacken: mit elf Verbänden, vom Deutschen Mieterbund über den Bundesverband freier Wohnungsunternehmen bis zur Dämmstoffindustrie. Es ist, kurz gesagt, die ganze deutsche Bau- und Immobilienbranche. Und diese will die Chance nutzen, die Flüchtlingskrise und politischer Handlungsdruck mit sich bringen, und alte und neue Forderungen durchsetzen.

Milliarden stehen dabei auf dem Spiel, zu erwarten ist eine Art Ausnahmezustand für die Baubranche: die rasante Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, die Durchsetzung geringerer Energiestandards, weniger Regulierungen – und Geld, viel Geld für den Bau von günstigen Wohnungen und Sozialwohnungen. Ein Großteil des Wunschzettels der Branche erscheint durch die Flüchtlingskrise nun in greifbarer Nähe.

Laut Chris Kühn, baupolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, erhebt die Bau- und Immobilienwirtschaft "sehr massiv drei Forderungen": eine Anhebung der Förderungen für den sozialen Wohnungsbau, steuerliche Anreize für den Neubau von Wohnungen und die Absenkung von energetischen und anderen Baustandards. Dass die Branche damit durchdringt, kann Kühn nicht erkennen: Die 500 Millionen extra, die der Bund für den sozialen Wohnungsbau bereitstellt, sind aus Sicht des Grünen zu wenig, um den Mangel an billigem Wohnraum in Ballungsgebieten zu beheben. Ob die steuerliche Förderung des Wohnungsbaus komme, stehe in den Sternen: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder hätten nur vage vereinbart, weitere Anreize zu prüfen – "da sehe ich nicht, dass die Finanzer ihre Schatullen öffnen". Kühn warnt auch vor einer Verschwendung von Steuergeldern durch eine Sonderabschreibung. Stattdessen müsse eine "zielgenaue Förderung" her.

Das sieht der Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete Jan-Marco Luczak ähnlich, der Steuervorteile für den Wohnungsneubau nur für Regionen befürwortet, wo auch die Mietpreisbremse gilt – weil dort eben Wohnungsnot herrsche.

Und was sagt die Branche? Ein "Problembewusstsein auf Bundesebene", dass immer mehr Regulierungen schaden, gebe es schon, sagt der Chef der Deutschen Bauindustrie, Michael Knipper. Die Bauwirtschaft biete dem Bund auch Lösungen an: "Typenhäuser" zu Baupreisen von 1300 Euro je Quadratmeter, dank Treppenhäusern und Decken direkt aus der Fabrik errichtet in drei bis sechs Monaten. Aber um diese in großen Serien herstellen zu können, brauche es einheitliche Standards, beispielsweise eine Musterbauordnung für alle Bundesländer, die die 16 teils abweichenden Regelungen ersetze.

Um den Druck auf das Bauministerium zu erhöhen, schmiedet die Bauwirtschaft auch ungewöhnliche Allianzen: Dem Verbändebündnis "Sozialer Wohnungsbau" trat sogar der Deutsche Mieterbund bei und richtete gemeinsam mit den Hauseigentümern Forderungen an den Bund: 80.000 Sozialwohnungen müssten jährlich entstehen, mehr als 400.000 Wohnungen aller Güteklassen brauche es sogar – und die Energieeinsparverordnung (Enev) müsse weg.

Ministerin Hendricks konterte geschickt, berief das "Bündnis bezahlbares Wohnen und Bauen" ein und lud die Branche in Arbeitsgruppen etwa zum billigeren Bauen ein. Hendricks begrenzte zugleich die von Kanzlerin Merkel angekündigte Absenkung der Baustandards auf das Geschäft mit provisorischen Bauten zur vorübergehenden Unterbringung von Flüchtlingen. Die Verschärfung der Enev stehe Anfang 2016 trotzdem an – komme, was wolle.

Wie aber fühlt es sich an, von allen Seiten bedrängt zu werden? Florian Pronold, Staatssekretär im Bauministerium, will nicht mal "unübliche Lobbyarbeit der Bauwirtschaft" festgestellt haben. Interessenvertretung gebe es ohnehin immer. Außerdem seien viele Forderungen "durchaus nachvollziehbar". Zum Beispiel, dass es 16 verschiedene Vorschriften in den Bundesländern für den Bau von Aufzügen in Wohnhäusern gebe, was den Bau des "Volksaufzugs" in Großserie zum Niedrigpreis verhindere. Zumindest bei diesem Problem hat die Branche im Bauministerium Gehör gefunden.

Der Druck der Lobby hat dazu geführt, dass das Thema in der christdemokratischen Basis erkannt wurde. Jedenfalls bei den Bundestagsabgeordneten, die aus Ballungsgebieten stammen. Denn dort herrscht Wohnungsnot, und die Volksvertreter werden deshalb von ihren Wählern bedrängt. "Wenn Neubauten wegen der Enev 2016 um acht Prozent teurer werden, dann werden diese auch teuer vermietet", sagt der Abgeordnete Luczak. Die Absenkung von Standards sei deshalb das "effektivste Mittel", um auch die Wohnkosten zu senken. Und "der Druck nimmt jeden Tag zu, an dem wir zehntausend Flüchtlinge aufnehmen", warnt Luczak.

Der Text erschien in der "Agenda" vom 3. November 2015 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false