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Brandenburg: Dunkler Augenblick

Sechs Menschen starben, als Busfahrer Harald H. mit Tempo 100 in einen Stau raste. Auch vor Gericht bleibt unklar, warum er nicht gebremst hat

Von Sandra Dassler

Von Sandra Dassler

Oranienburg. Bis zu jenem Sonntagmorgen hatte Manuela S. (40) eine zwölfjährige Tochter und einen 13-jährigen Sohn. Bis zu jenem Sonntagmorgen war Petra S. (32) eine glückliche Mutter, die ihr sechs Monate altes Baby stillte, sich auf die gemeinsame Zukunft mit ihrem Mann und auf den Wiedereinstieg in ihren Beruf als Krankenschwester freute.

Bis zu jenem Sonntagmorgen hatte sich Busfahrer Harald H. (48) nichts zuschulden kommen lassen. An jenem 21. Juli 2002 aber raste der Berliner ungebremst in ein Stauende auf der Autobahn A 24 bei Kremmen. Fünf Kinder und eine junge Frau starben, neun weitere Personen wurden verletzt. Ein Augenblick veränderte das Leben vieler Menschen dramatisch. Gestern saßen sie im Saal 206 des Amtsgerichts Oranienburg. Die Stühle reichten nicht für alle.

Harald H. auf der Anklagebank vermied es, den Angehörigen der Getöteten oder den bei dem Unglück Verletzten in die Augen zu sehen. Weit nach vorn gebeugt saß er da, anfangs hielt er sein Gesicht hinter einer dunklen Brille versteckt. Er nahm sie erst ab, als die Vorsitzende Richterin den Gerichtssaal betrat. Nachdem der Staatsanwalt die Anklage wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung verlesen hatte, schilderte H. den Unglückshergang aus seiner Sicht: Am Vortag sei er von einer Fahrt mit seinem Reisebus aus Italien zurückgekehrt, habe gegen 18 Uhr Feierabend gehabt, etwas gegessen und bis 21 Uhr ferngesehen. Nach ausreichend Schlaf sei er am Sonntagmorgen losgefahren, um Kinder von der Ostsee abzuholen. „Ich fühlte mich pudelwohl“, sagt er leise. Auf der Autobahn habe er den Tempomat eingeschaltet, der den Reisebus auf einer Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometern halten sollte. Es waren nur wenige Autos unterwegs, seine letzte Erinnerung sei ein weißes Fahrzeug etwa 500 Meter vor ihm gewesen.

Danach klafft im Gedächtnis von Harald H. seinen eigenen Angaben zufolge eine dunkle Lücke. Seine Erinnerung setzt erst wieder ein, als er einen Knall hört, einen weißen Kleinbus neben sich wahrnimmt und sieht, wie er auf eine junge Frau auf der Fahrbahn und einen roten Nissan, der in der Mittelleitplanke steht, zurast. Dann habe er sofort gebremst. Zu spät für die Zwillinge Katharina und Tobias (8) und ihre Schwester Jennifer (10) aus einem Potsdamer Kinderheim. Sie starben zusammen mit Maria (12) und Sebastian (13) auf den Rücksitzen des VW-Busses. Maria und Sebastian waren die Kinder von Manuela S., die vorn saß und wie der Fahrer des Kleinbusses schwer verletzt wurde. Manuela S. erzählt, dass sie sich kurz vor dem Unglück umgedreht hat und dass die Kinder hinten alle schliefen: „Mein Sohn schläft immer sofort ein beim Autofahren“, sagt sie und benutzt die Gegenwart: als ob ihr Sohn noch lebt.

Die Zeugen berichten, dass sich der Stau bildete, weil die Fahrerin des roten Nissans offenbar zu nah an ein anderes Fahrzeug kam und dann in die Leitplanke fuhr. Einige eilten der verletzten Fahrerin zu Hilfe – die Krankenschwester Petra S. zum Beispiel. Sie wurde vom Reisebus erfasst, bevor er in den Nissan raste, wo die 22-jährige Fahrerin starb.

Petra S. lag sechs Tage im Koma, 17 Tage auf Intensivstation und viele Wochen in der Klinik. Noch immer hat sie Schmerzen und wird wohl nie wieder als Krankenschwester arbeiten können. „Zum Glück ist meinem Baby im Auto nichts passiert. Aber durch den Unfall war ich lange Zeit von ihm getrennt, konnte es nicht mehr stillen – ja, nicht mal im Arm halten“, erzählte sie weinend. Der Busfahrer auf der Anklagebank weinte mit ihr.

Der Prozess wird am Freitag nächster Woche in Oranienburg fortgesetzt.

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