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Brandenburg: Kälter als der Tod

Warum die Eltern ihren Jungen sterben ließen und in eine Truhe packten – der Prozess gab darauf keine Antwort. Doch er ließ ahnen, wie Dennis litt. Heute wird das Urteil gefällt

Von Sandra Dassler

Fast immer trug sie diesen schneeweißen Pullover, auf den ihre offenen schwarzen Haare fielen. Ein dunkler Vorhang, der ihr Schutz verschaffte. Genau wie die rechte Hand, mit der die 44-jährige Angelika B. zum Zuschauersaal hin ihr Gesicht abdeckte, es verbarg vor den Blicken, die immer wieder zu ihr wanderten. Fassungslos, traurig, auch hasserfüllt.

„So eine ist doch kein Mensch“, spie eine Frau in die Mikrofone der Reporter: „So eine, die ihrem Kind nichts zu essen gibt, es verhungern lässt und dann in die Tiefkühltruhe ihrer Wohnung legt … “ Das war im Oktober 2005, als am Landgericht Cottbus der Prozess gegen Angelika und Falk B. wegen Totschlags ihres Sohnes Dennis gerade begonnen hatte. Am ersten Verhandlungstag mussten die Zuschauer noch Platzkarten vorweisen und ihre Taschen öffnen. Das Gericht befürchtete wohl eine Art Volkszorn. Aber der Volkszorn entlädt sich in Cottbus nicht in Gerichtssälen. In den Kneipen, in denen die B.s verkehrten, haben ihre ehemaligen Saufkumpane den Prozess allabendlich kommentiert. Und gejubelt, als der Staatsanwalt nicht mehr nur auf Totschlag, sondern auf Mord plädierte.

Das Schicksal von Dennis wurde nicht nur an Stammtischen diskutiert. Es reiht sich ein in eine Serie von Fällen, die in jüngster Zeit die Öffentlichkeit schockierten: Die Eltern der siebenjährigen Jessica aus Hamburg wurden wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Bautischler aus Elmshorn soll den zweieinhalbjährigen Tim, Sohn seiner Freundin, erschlagen haben. In Frankfurt (Oder) wurden die Leichen von neun Babys in Blumenkästen entdeckt – ihre Mutter hat sie nach der Geburt getötet. Jede Woche, behauptet der Kinderschutzbund, sterben in Deutschland zwei Kinder an Misshandlung oder Verwahrlosung. Politiker wollen härtere Gesetze und Pflichtuntersuchungen von Kindern.

Heute wird das Landgericht in Cottbus sein Urteil im Fall Dennis verkünden. Nach 14 langen Verhandlungstagen, die schockierende Details offenbarten: über Behörden, die ihre Fürsorgepflicht vernachlässigen. Über Zustände in sozial schwachen Familien. Vor allem aber über unvorstellbar grausame Eltern.

Für Prozessbeobachter wurde es manchmal unerträglich. Beim Anblick jener Tiefkühltruhe zum Beispiel, in der Angelika B. die Leiche ihres Sohnes von Dezember 2001 bis Juni 2004 versteckt hielt. Die Truhe war nur 52 Zentimeter breit und tief und 86 Zentimeter hoch. Klein und unscheinbar stand sie zu Beginn des dritten Verhandlungstages vor der Bank von Staatsanwalt Tobias Pinder. Der erläuterte, wie die Kinderleiche gefunden wurde: „Die Polizisten mussten erst mehrere Pappdeckel und Plastikbeutel entfernen.“ Wie zum Hohn grinsten mehrere bunte Abziehbildchen – Kinderbildchen – vom Vorderteil der Truhe. Dann streifte sich der Staatsanwalt weißliche Gummihandschuhe über und hob den Deckel. „Die Truhe war luftdicht, sie ist es heute noch“, sagte er. Süßlicher Verwesungsgeruch strömte zum Gericht, zur Anklagebank, zu den Zuschauersitzen. Würgend verließen einige Beobachter den Saal. Andere stürzten zu den Fenstern. Der Vorsitzende Richter unterbrach die Verhandlung zum Lüften. Der Staatsanwalt schloss die Truhe wieder und zog die Handschuhe aus.

Manche Journalisten haben Tobias Pinder Effekthascherei vorgeworfen. Kriminalhauptkommissar Matthias Warnke ist anderer Meinung. „Die Truhe ist ein wichtiges Beweismittel“, sagt der 55-jährige Leiter der Cottbuser Mordkommission: „Wenn man in einem so kleinen Behältnis die Leiche eines fast siebenjährigen Jungen unterbringen kann, lässt das Schlüsse über den Zustand des Kindes bei seinem Tod zu.“

Matthias Warnke hat an allen Verhandlungstagen im Zuschauersaal gesessen. Immer auf demselben Platz in der dritten Reihe, gleich hinter den Journalisten: ein unauffälliger Mann mit Brille. Warnke kennt alle Mordfälle der letzten 30 Jahre im Bereich des ehemaligen Polizeipräsidiums Cottbus. Der Fall Dennis hat ihn besonders berührt. Er will aber auch herausfinden, wie gut seine Kriminalisten die Ermittlungen geführt haben. Gerade, wenn es um Kinder gehe, sagt er, seien Polizeibeamte nicht frei von Gefühlen. Aber auch wenn ein Kriminalist eine eher einem Vogel als einem Kind ähnelnde Leiche in einer Kühltruhe gefunden hat, müsse er die Beschuldigten korrekt über ihre Rechte aufklären. Und die Protokolle der Erstvernehmungen peinlich genau anfertigen.

Im Fall Dennis war das Gericht manchmal auf diese Protokolle angewiesen. Die Angeklagten und einige Zeugen erinnerten sich angeblich nicht mehr daran, was sie kurz nach Auffinden der Kinderleiche ausgesagt hatten. Beispielsweise, dass Dennis oft mit einem Bademantelgürtel ans Bett gefesselt wurde. Am Ende des Prozesses kann Matthias Warnke seinen Kollegen korrekte Arbeit bescheinigen. Über die Arbeit anderer Behörden hat er manchmal den Kopf geschüttelt. Beispielsweise, als eine Zeugin berichtete, wie sie in der Wohnung der B.s ein Kind jämmerlich winseln hörte. Sie rief das Jugendamt an. Geschehen ist nichts.

Das Jugendamt hat selten Vertreter zum Prozess geschickt. Nach dem Fund der Kinderleiche stellte die Cottbuser Oberbürgermeisterin fest, dass es keine Versäumnisse gab: „Die Familie hat Hilfsangebote erhalten. Mehr konnten wir nicht tun.“ Jörn Meyer sieht das anders. Der 47-Jährige hat 1991 die „Cottbuser Jugendhilfe e. V.“ gegründet, die inzwischen 70 Mitarbeiter in 13 Projekten beschäftigt – von Streetwork bis zum betreuten Wohnen. Meyer ist nicht groß, aber kräftig, mit Händen, die zupacken können. Früher war er Heimerzieher. Er hat den Prozess verfolgt, um herauszufinden, was schief gelaufen ist. Warum bemerkten die Jugendamtsleute, die jahrelang die Familie betreuten, nicht, dass Dennis verschwand? „Wir werden solche Fälle nie hundertprozentig ausschließen können“, sagt er: „Aber es darf nicht mehr sein, dass der einzelne Sozialarbeiter entscheiden muss, wie schwer der Verwahrlosungsgrad in einer Familie ist und wie hoch die Glaubwürdigkeit von Eltern. Und wir müssen die Dokumentationen sehr genau führen.“

Die Jugendamtsmitarbeiterin, die zuletzt Familie B. betreute, hat beispielsweise keinen Hinweis auf die Anzeige der Zeugin, die das Kind winseln hörte, in den Unterlagen gefunden. Die Vorgeschichte der B.s war der jungen Frau nicht bekannt. Im Zeugenstand erzählte sie mit leiser Stimme, dass Angelika B. sehr kooperativ war. Das sei nicht die Regel gewesen bei den Familien, die sie betreute. Auch Sozialarbeiter wollen manchmal geliebt werden. Unsicher schaute die junge Frau zur Anklagebank.

Die dort sitzen, schauen nicht zurück. Angelika B. hat keinen Zeugen angesehen. Auch mit ihrem Ehemann hat sie selten geredet. In den Verhandlungspausen stand sie mit ihm in einer Ecke auf dem Hof des Landgerichts. Rauchend. Schweigend. Kein Journalist sprach die beiden an. Warum auch? Im Gerichtssaal erfuhr man mehr, als man je erfahren wollte: von zwei Lebenslinien, die sich irgendwann kreuzten: Angelika B., ein aufmüpfiges Mädchen, das von zu Hause weglief, als es die Eltern nicht Schneiderin werden ließen. Statt als Ungelernte im Textilkombinat zu arbeiten, trieb sich „die Geli“, wie alle sie nannten, lieber mit Männern herum. So etwas nannte man in der DDR asoziales Verhalten. Es war ein Straftatbestand, und so landete die Geli im Gefängnis. Ihre erste Tochter gab sie zur Adoption frei, nach dem Gefängnis heiratete sie, bekam drei Söhne. Die Ehe ging schief: Alkohol, Prügel. Angelika ließ sich scheiden. Auch, weil sie Falk B. kennen gelernt hatte, den sieben Jahre Jüngeren, der aus einer Familie kam, in der mehr geschlagen als geredet wurde. Mit 14 schlug Falk B. regelmäßig zurück, kam in den Jugendwerkhof, das DDR-Gefängnis für Minderjährige. Arbeit hatte er nie lange – schon gar nicht nach der Wende. Der psychiatrische Gutachter bescheinigte ihm „geminderte Intelligenz“. Die Geli habe er geliebt, sagte der Mann mit der bärenhaften Statur vor Gericht.

Jedes Jahr bekommt sie ein Kind von ihm – obwohl 1995, dem Geburtsjahr von Dennis, alles zusammenzubrechen scheint: Angelika B. kriegt den Haushalt nicht in den Griff, ihr Mann sitzt im Gefängnis, die drei großen Söhne sind im Heim, die beiden vor Dennis geborenen Kinder zur Adoption freigegeben. Auch Dennis kommt nach seiner Geburt ins Heim. Wenige Monate später springt oder fällt Angelika B. in alkoholisiertem Zustand aus dem Fenster ihrer Neubauwohnung. Die Ärzte befürchten, dass sie ihre Beine amputieren müssen. Angelika B. hat mit sich zu tun. Keine Zeit für Dennis. Und sie ist wieder schwanger.

Als ein Ehepaar die beiden älteren Geschwister von Dennis adoptiert, ist eine Mitarbeiterin des Jugendamtes dabei. Vor Gericht erzählt sie: „Die Kinder waren gemeinsam mit Dennis im Heim. Er war damals ein Jahr alt. Ich hab ihn auf den Arm genommen und gesagt: ,Da ist ja noch so ein Süßer‘. Die Adoptivmutter antwortete: ,Den können wir doch auch gleich noch mitnehmen.‘“ Die Frau lässt die Worte ein paar Sekunden wirken. Dann dreht sie sich zum Zuschauersaal, seufzt theatralisch und setzt hinzu: „Hätten die das damals bloß gemacht.“

Aber Dennis wird nicht zur Adoption freigegeben, mit eineinhalb Jahren kommt er zurück zu den Eltern. Sein jüngerer Bruder ist geboren, drei weitere Geschwister folgen. Dennis kennt seine Eltern nicht: „Er war schwierig, bockig“, sagt Angelika B. später in der polizeilichen Vernehmung. „Er hat nicht gegessen – dann hat er eben nichts gekriegt.“

Vor Gericht hat sie nach der Schilderung ihrer Biografie und des Tathergangs kaum noch etwas gesagt. Der Anblick der Tiefkühltruhe löste bei ihr ebenso wenige Reaktionen aus wie die Schilderung des Zustands der Leiche ihres Kindes durch den Gerichtsmediziner. Geweint hat sie nur, wenn es um ihre angeblich schlimme Kindheit oder ihre Beinverletzung ging. Der psychiatrische Gutachter attestierte ihr einen Hang zum Selbstmitleid. In der Familie sei sie der bestimmende Teil gewesen. In einem privaten Videofilm, den die Verteidigung im Gerichtsaal vorführen lässt, wird das deutlich: Es ist der 40. Geburtstag von Angelika B., es wird viel geraucht und noch mehr getrunken. Angelika B. gibt Anweisungen und kommandiert ihren Mann. Plötzlich taucht ganz kurz ein magerer Junge mit einem überproportional groß wirkenden Kopf schwankend in der Tür zum Wohnzimmer auf. Es ist Dennis.

Die makabre Filmvorführung ist der einzige Anlass, bei der Roland Bernards die Geduld verliert. Der Vorsitzende Richter hat den Prozess ruhig und souverän geleitet. Das Saufgelage will er sich nicht länger ansehen. „Schalten Sie das aus“, ruft er nach 30 Minuten angeekelt: „Machen sie das endlich weg!“

Warum Angelika B. zusah, wie Dennis dahinsiechte, warum sie nicht mit ihm zum Arzt ging, hat sie vor Gericht nicht erklären können. Der Gutachter deutete ein mögliches Motiv an: Die ältesten Söhne wollten nicht zurück ins Heim. Vielleicht hatte Angelika B. ja Angst, dass man ihr die anderen Kinder wegnehmen würde, wenn der Zustand von Dennis bekannt geworden wäre.

Musste Dennis deshalb sterben? Tragen die Behörden eine Mitschuld? Im Frühjahr 2001, als die Eltern aufgefordert werden, Dennis zur gesetzlich vorgeschriebenen Untersuchung vor der Schuleinführung zu bringen, ist der Junge nur noch Haut und Knochen. Trotzdem wäre er da noch zu retten gewesen, meinen die Gutachter. Aber die Eltern ignorieren die Aufforderung zum Arztbesuch. Und der zuständige Schulrat meinte, sie würden als Sozialhilfeempfänger sowieso kein Bußgeld zahlen. Damit ist der Fall erledigt. Das Amt nimmt ohne weitere Nachfrage hin, dass Dennis nicht zur Untersuchung und auch nicht zur Schule kommt.

Inzwischen hat das Land Brandenburg beschlossen, sein Schulgesetz zu ändern. Nie mehr sollen sich Ämter mit Erklärungen abspeisen lassen, wenn ein Kind nicht in der Schule erscheint. Auch Berlins Schulsenator Klaus Böger ordnete unlängst schärfere Kontrollen an. „Durch die Berichterstattung über den Prozess sind die Bürger sensibler geworden, meint Kriminalkommissar Warnke: „Sie wissen, dass sie die Polizei informieren können, wenn ein Amt nicht reagiert.“

„Wir führen jetzt standardisierte Verfahren ein, um die Situation in Familien abzufragen“, sagt der Chef der Jugendhilfe, Jörn Meyer. „Da kommen alle Beteiligten an einen Tisch und lernen, Signale zu erkennen – eine Art Frühwarnsystem.“ Das könne ebenso wie Pflichtuntersuchungen zumindest ein jahrelanges Leiden von Kindern verhindern, meint Meyer.

„Man kann nur ahnen, wie Dennis gelitten hat“, sagte Staatsanwalt Tobias Pinder in seinem Schlussvortrag. Ein fast siebenjähriger Junge müsse nicht nur die körperlichen, sondern auch die seelischen Misshandlungen bewusst wahrgenommen haben. Auch deshalb hat Pinder eine lebenslange Freiheitsstrafe für die B.s gefordert. Die Reue, die Angelika B. am Ende des Prozesses beteuerte, nimmt er ihr nicht ab. Schon deshalb, weil sie ungerührt eine der letzten Szenen aus dem Leben ihres Sohnes geschildert hatte: Am Vorabend seines Todes habe „der Dennis“ baden sollen, aber nicht gewollt. Daraufhin hätte sie den Jungen auf das Bett geschleudert, wobei er mit dem Kopf gegen einen Pfosten prallte. Später habe das Kind dann weinend zu ihr gesagt: „Dennis will wieder lieb sein“. „Jetzt ist es zu spät“, hat seine Mutter ihm geantwortet.

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